Neuronales Bewegungscoaching
Niko Romm zeigt, wie ein neuronales Leistungsoder Bewegungscoaching, auch als „Neuro-Athletiktraining“ bezeichnet, funktioniert und wie es auch außerhalb des Leistungssports zielführend eingesetzt werden kann.
Der Begriff „Neuro-Athletiktraining“ entwickelt sich gerade zum Synonym für eine Arbeitsweise unter gezielter Integration der Neurologie. Gleichzeitig impliziert dieser Begriff allerdings, dass es sich ausschließlich um ein Training für Athleten handelt. Dies ist aber eine unzulässige Eingrenzung dieses vielfältigen Themenbereichs, denn von einer Verbesserung der Bewegungssteuerung profitieren nicht nur Sportler, sondern häufig auch Nichtsportler mit Alltagsproblemen wie Rückenschmerzen, Migräne oder Sehproblemen beim Autofahren enorm von einem neuronalen Coaching. Neu ist dieser Ansatz der Neuro-Athletik nicht. Nur wird aus den Erkenntnissen selten ein Praxisbezug hergestellt.
Aufgaben des Nervensystems
Das Nervensystem hat drei Aufgaben: 1. den Input aller Sinnesorgane (Innen- und Außenwahrnehmung) aufzunehmen, 2. diese Informationen zu integrieren bzw. sie zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und vor dem Hintergrund der Frage: „Ist das potenziell gefährlich für das Überleben?“, zu bewerten. Als Ergebnis wird 3. eine Handlungsentscheidung getroffen, die in der Regel mit einem motorischen Output verbunden ist. Ein einfaches Beispiel: Aus der Innenwahrnehmung kommt die Rückmeldung, dass meine Kehle trocken ist, das Blut langsam dickflüssiger wird und auf der Zellebene zu wenig Wasser vorhanden ist. Das Gehirn interpretiert dies als Durst – und wenn dieser groß genug ist und es keine anderen „Bedrohungen“ gibt, wird die Entscheidung getroffen, etwas zu trinken. Dafür muss ich mich zur Wasserquelle bewegen und die koordinierte Bewegung „Glas greifen und trinken“ ausführen.
Der motorische Output verbessern
Ein neuronales Bewegungscoaching ist die zielgerichtete, sehr spezifische Arbeit mit dem Nervensystem mit dem Ziel, den motorischen Output zu verbessern. Wenn man den Input – also die Qualität der Informationen sowie die Fähigkeit von Gehirnarealen, diese zu bewerten – verbessert, wird sofort auch der Output besser. Das passiert mit der Geschwindigkeit des Nervensystems: sofort. Je nachdem, wie schlecht die vorherige Qualität des Inputs war, fallen Verbesserungen zum Teil sehr deutlich aus. Das zentrale Nervensystem (ZNS) empfängt jede Sekunde eine riesige Menge Informationen aus unseren peripherem Nervensystem (PNS). Auf Basis dieser Informationen muss unser Gehirn eine Entscheidung treffen, was diese Informationen für mich bedeuten (Integration) und welche Handlung darauf folgt (motorischer Output). Dieser Prozess erfolgt in der Regel unterbewusst.
Neuronales Schmerzcoaching
In einem weiteren Spezialbereich, dem neuronalen Schmerzcoaching, wird lediglich ein anderer Output betrachtet: der Schmerz. Auch hier gibt es mittlerweile zahlreiche Hinweise dafür, dass Schmerz im Gehirn wahrgenommen wird und nicht in einer beschädigten Struktur, wie beispielsweise einer Bandscheibe. Insbesondere bei chronischen Schmerzen sollte daher das Nervensystem das Zielorgan der Wahl sein und weniger die eigentlich schmerzende Struktur.
Als Trainer arbeitet man immer mit dem Nervensystem – entweder gezielt oder zufällig. In der klassischen Betrachtungsweise sind jedoch alle Trainingssysteme ausschließlich auf den Output fixiert; ein sensorischer Input wird eher per Zufall produziert, denn durch jede Bewegung entsteht natürlich auch wieder ein sensorischer Input. Ein Beispiel: Wenn ich bei Kniebeugen besser werden möchte, dann trainiere ich im Schwerpunkt immer wieder Kniebeugen und ändere die Variablen „Bewegungstempo“ (TUT), „Intensität“ (kg) und „Volumen“ (Wiederholungen und Sätze), um langfristig besser bzw. stärker zu werden.
Arbeit auf verschiedenen Einflussebenen
In einem neuronalen Bewegungscoaching hingegen wird gezielt auf den Einflussebenen von Rezeptoren, Nerven und Leitbahnen im Rückenmark (aufsteigende oder absteigende Leitbahnen) und Gehirnarealen gearbeitet. Durch die Verbesserung des Inputs oder der Integration wird in der Folge der Output ebenfalls verbessert. Das alles beruht auf dem Prinzip der sogenannten neuronalen Plastizität, worunter man die Eigenart von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen versteht, sich zwecks Optimierung laufender Prozesse nutzungsabhängig in Anatomie und Funktion zu verändern.
Woher kommt der Input?
1. Exterozeption
Die Exterozeption beschreibt die Außenwahrnehmung. Die meisten Informationen erhalten wir dabei über unser visuelles System. Statt lediglich über „die Augen“ zu sprechen, verwendet man eher den Begriff „System“, da dieser nicht nur das eigentliche Sinnesorgan, sondern alles – vom Rezeptor über den Nerv und die Leitbahn im Rückenmark bis hin zum verarbeitenden Gehirnareal (und wieder zurück bis in den Zielmuskel) – beschreibt. Auch der Geruchssinn (olfaktorisches System), Geschmackssinn (gustatorisches System) und das Gehör (auditives System) sowie der Tastsinn (taktiles System) fallen unter dieses System.
2. Propriozeption
Hiermit wird die Wahrnehmung von Körperbewegungen und -lagen im Raum oder von einzelnen Gelenken zueinander bezeichnet. Vielen Trainern fällt der Einstieg in ein neuronales Bewegungscoaching hier sehr leicht, da viele Inhalte aus diesem System schon bekannt sind.
3. Interozeption
Durch die Interozeption nehmen wir einzelne Körperabschnitte sowie das, was im Körperinneren passiert, wahr. In der Regel geschieht dies unbewusst. Beispiele dafür sind der Blutzuckerspiegel, der Gehalt von Sauerstoff oder Stickstoff im Blut oder die Füllzustände von Magen, Blase oder Darm. Da diese Daten für das kurzfristige Überleben extrem wichtig sind, liegt es nahe, dass wir am schnellsten unser Verhalten ändern, wenn hier etwas nicht stimmt. Wir reagieren dann schnell und verändern beispielsweise die Atemfrequenz, gehen zur Toilette oder nehmen Flüssigkeit beziehungsweise Nahrung auf. Das vestibuläre System, das Informationen darüber liefert, in welche Richtung man sich bewegt, wo oben ist und wie sich der Kopf bewegt, wird häufig als ein Teil der Interozeption gesehen.
Integration der Neurologie
Das Nervensystem reagiert extrem schnell auf Dinge, die eine „Gefahr“ darstellen, oder auf eine Verbesserung der zugeführten Informationen (Input). Daher ist ein regelmäßiges Re-Testing innerhalb einer Session und zum Teil nach jeder einzelnen Intervention fester Bestandteil einer neurozentrierten Arbeitsweise. Darüber hinaus ist das Nervensystem das plastischste System von allen, d.h., Veränderungen sind schnell erzielbar und sehr stabil, sobald sich eine neue neuronale Verbindung etabliert hat. Da es das übergeordnete System ist und alle anderen Systeme (z.B. neuromuskulärer Tonus) durch das Nervensystem gesteuert werden, ist diese Art der Arbeit im Sinne einer ganzheitlichen individuellen Arbeitsweise alternativlos. Ein umfassendes Verständnis der Neuroanatomie hilft Trainern dabei, ein qualitativ hochwertiges und wirklich individuelles Training anzubieten. Gleichzeitig ergibt sich daraus allerdings auch die „Problematik“, dass dieses Thema aufgrund der Komplexität sehr viel schwerer zu begreifen ist und man nicht in ein bis zwei Wochenendseminaren sein Wissen in diesem Bereich vertiefen kann. Wer wirklich ernsthaft mit diesem Thema eine Dienstleistung in einem professionellen Leistungs- und Gesundheitsmanagement anbieten möchte, wird um ein mehrjähriges Studium der Materie nicht herumkommen.
Praxisbeispiel 1: Rumpfstabilität
In den mittleren Teil unseres Kleinhirns (Cerebellum) gehen alle Informationen aus unserem visuellen System, dem vestibulären System und der Propriozeption der gesamten Wirbelsäule ein (Input). Daraus wird ein Gesamtbild interpretiert (Integration): In welche Richtung bewege ich mich, wo befinde ich mich in Relation zu allen anderen Objekten in meiner Umgebung und welche eigene Körperposition nehme ich dabei ein? Als Output muss innerhalb kürzester Zeit eine Entscheidung getroffen werden: Wie werden die Flexoren und Extensoren der axialen Muskulatur angespannt oder entspannt, um die dazu passende (reflexive) Stabilität zu erzeugen? Wenn die Mitte nicht stabil bleibt, sieht man beispielsweise bei einem Golfschwung Fehler im Schwungbild. Oder eine Instabilität bei einem Wall Drill, den man zu Verbesserung der Lauftechnik einsetzt. In beiden Fällen führt eine zielgerichtete Verbesserung des Inputs aus dem peripheren Sichtfeld dazu, dass die Rumpfstabilität deutlich besser wird.
Praxisbeispiel 2: „Sensorisch vor motorisch“
Im zentralen Nervensystem erfolgt die Reizweiterleitung stark vereinfacht wie folgt: 1. von unten nach oben und 2. von hinten nach vorn (siehe Abbildung). Informationen steigen durch das Rückenmark von unten nach oben auf und durchlaufen dann den Gehirnstamm und Areale wie den Thalamus. Diese dienen als erster Filter und reagieren reflexiv. Zum einen, um schneller reagieren zu können, wenn etwas potenziell gefährlich ist – zu anderen, damit Areale wie der präfrontale Cortex nur aus den Informationen mit Relevanz eine Entscheidung treffen können. Geht man die Gehirnareale von hinten nach vorn durch, so trifft man nach dieser Reihenfolge zuerst auf den Parietallappen (gelb; Funktion: Integration sensorischer Informationen) und als Letztes auf den Frontallappen (rosa; Funktion: Motorik startet hier). Nach dieser Reihenfolge sieht also schon: Bevor ich ein Gelenk oder einen Muskel bewegen kann (Output), interessiert mein Nervensystem erst einmal, wie sich dieser Bereich anfühlt (Input). In der Praxis ergeben sich daraus oftmals einfache wie verblüffende Resultate. Kunden mit jahrelangen Schulterschmerzen oder einer Einschränkung der Beweglichkeit erleben extreme Veränderungen in 30 bis 60 Sekunden durch Reiben, Vibration oder Kälte-/Wärmeanwendung.
Niko Romm | Geschäftsführer von Valeo Personal Training in Bonn (Personal Training, Neuronales Bewegungscoaching und Corporate Fitness). Leiter und Gründer der Valeo Academy (Workshops und Seminare). Experte für Funktionelle Neurologie & Neuronales Bewegungscoaching. www.valeostudio.de
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