Körperdaten
Die Vermessung der Innenwelt
Sind Körperdaten ein hilfreiches Tool zur Selbsterkenntnis oder erziehen sie den Menschen ein gesundes Körperempfinden ab? Wahr ist vor allem: Körperdaten und ein gutes Gefühl für die eigenen Grenzen sind kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil: Sie können ein Weg zu persönlicher Nachhaltigkeit sein.
Es war ein Gespräch mit weitreichenden Folgen, das Seppo Säynäjäkangas 1976 am Rande einer Langlaufpiste in den finnischen Wäldern führte. Seppo war damals junger Professor für Elektrotechnik an der Universität von Oulu im Norden des Landes; er selbst war ein versierter Langläufer und traf in Ausübung seines sportlichen Hobbys auf den Trainer eines ambitionierten Nachwuchskaders. Die Männer kamen ins Gespräch – auch darüber, wie sich das Training der Leistungssportler dieses Übungsleiters optimieren ließe. Ach, sagte der Trainer, es wäre schon schön, wenn man, nur so zum Beispiel, wüsste, wie sich die Herzfrequenz der Sportler in bestimmten Situationen auf der Piste verhielte. Aber leider könne man die ja nur kabelgebunden messen, wenn die Jungs und Mädels zum Stehen gekommen seien. Säynäjäkangas verabschiedete sich und glitt weiter, aber er grübelte ab diesem Zeitpunkt darüber nach, wie ein kabelloses Messverfahren für die Herzfrequenz von Sportlern aussehen könnte – und hörte in den kommenden Jahren auch nicht mehr damit auf. 1977 gründete er an der Universität Oulu die Firma Polar Electro OY, die 1982 die erste kabellose Pulsuhr der Welt auf den Markt brachte. Und das hat so einiges verändert.
Die Borg-Skala
Vor etwas mehr als 30 Jahren, einige Jahre nach der Erfindung der Pulsuhr, wurde das „subjektive Belastungsempfinden“ zu einem Thema, das die einschlägigen Forscher zu interessieren begann; die Erfindung aus Finnland hatte die Möglichkeiten zur Datenerhebung schließlich deutlich vereinfacht, verbessert und in vielen Situationen überhaupt erst ermöglicht. Bis dahin war es vor allem die Borg-RPE-Skala gewesen, mit der Sportler ihr persönliches Erschöpfungsempfinden einschätzen sollten. „Borg“ steht dabei für den schwedischen Philosophen und Physiologen Gunnar Borg, der diese Tabelle zur Selbsteinschätzung 1962 entwickelte, „RPE“ für „Ratio of Perceived Exertion“ – übersetzt in etwa: die Quote der empfundenen Erschöpfung. Dabei ging Borg davon aus, dass die Belastung bei sportlicher Aktivität zum Beispiel mit einer Herzfrequenz von 100 leicht und bei 170 schwer sei. Er dividierte die gemessene Herzfrequenz durch 10 und begrenzte seine Skala mit den Werten 6 (sehr, sehr leichte Belastung) und 20 (zu schwer, fast nicht mehr aushaltbar).
Doch Borg merkte schnell: Die bloße Herzfrequenz macht noch kein Empfinden. Und auch seine Kollegen interessierten sich mehr und mehr für die feineren, individuellen Parameter – auch jene, die nicht so ohne Weiteres messbar sind. In einem groß angelegten Versuch Ende der 1980er versorgten Wissenschaftler sowohl Profisportler als auch Amateure und ambitionierte Hobbyathleten mit den neuartigen Pulsuhren. Sie gaben den Läufern die Aufgabe mit, ihr Training auf der Borg-Skala im mittleren bis mäßig schweren Bereich zu absolvieren. Nach der Einheit wurden die Probanden zunächst interviewt: Wie war’s, wie habt ihr euch gefühlt, wo auf der Borg-Skala sortiert ihr euch ein? Die Antworten waren geradezu unisono: das Training war mittel bis schwer, das sei ja schließlich die Aufgabe gewesen. Erst danach schauten sich die Forscher die Daten an, die von den Pulsuhren aufgezeichnet worden waren.
Leben am Belastungslimit?
Keiner der Sportler hatte sich im mittleren Bereich bewegt. Ausnahmslos alle hatten im Bereich schwer bis sehr schwer oder hart an der Grenze des Aushaltbaren trainiert. Das ist in mehrfacher Hinsicht hochinteressant – zum Beispiel, weil es die Leistungsgesellschaft spiegelt, wie sie damals wie heute in noch viel stärkerem Ausmaß existiert: Wir sind darauf konditioniert, bis zum Umfallen zu performen, im Job, beim Sport, aber auch in unseren Rollen in der Familie im Freundeskreis. „Mittlere Belastung“ bedeutet in diesen Bereichen übersetzt: Man wurschtelt sich unambitioniert so durch, die mittlere Belastung ist heutzutage keine akzeptierte gesellschaftliche Ablieferungsstufe.
Die zweite wichtige Erkenntnis resultiert aus dieser Haltung: Wir halten das hochtourige Leben für normal und spüren Überforderung kaum noch – oder ignorieren sie. Wer ein Burnout erleidet, fühlt es in genau dem Moment, in dem es passiert – und leitet erst in diesem Moment Gegenmaßnahmen ein. Dass es schon wochen- und monatelang – in manchen Fällen über Jahre – Warnsignale gab, nahmen die Betroffenen in der Regel nicht wahr. Ich habe im Rahmen zahlreicher Studien das Körperempfinden von über 4 000 Menschen untersucht und mittels subjektiven Empfindens dieser Probanden, aber auch anhand von Ergometertests, Blutwerten und einigen anderen Parametern festgestellt, wo die Borg-RPE-Skala tatsächlich funktioniert, nämlich nur im sehr schweren Bereich – vorher bekommt man die individuelle Belastung über das eigene Gefühl kaum gesteuert.
Aus dieser Erkenntnis habe ich einen Beruf gemacht: Körperdaten erfassen, bündeln und sie in das Leben der Menschen einordnen, zu denen sie gehören. Es gibt nicht wenige Firmen im Medical- Fitness-Markt, die den letzten Punkt schlicht vergessen und der Ansicht sind, der Muskel- und Fettanteil bei der Körperzusammensetzung würde schon reichen, um eine optimale Trainingssteuerung zu entwickeln. Das ist viel zu kurz gedacht. Denn was nützt es, wenn der Körper einer meiner Klienten ein Training im schweren Bereich zulässt, der aber dazu partout keine Lust hat – oder umgekehrt? Muss ich einen Mann, der sich mit einem BMI von über 30 als sportlich einigermaßen leistungsfähig darstellt, dazu drängen, 20 Kilo abzunehmen, damit dieser Wert im offiziell gesunden Bereich liegt – obwohl dieser Klient Stein und Bein schwört, dass er sich dann „nicht richtig“ fühlen würde? „Körpergefühl“ besteht nicht umsonst aus zwei sehr starken Hauptwörtern – und ich habe gelernt, dass es wichtig ist, auf Stimmen zu hören, die sich vor allem auf den zweiten Teil dieses Wortes beziehen. Auch dann, wenn sie Wohlbefinden an Stellen ausdrücken, die bedenklich von gewissen Normen abweichen. Wie oben erwähnt: Es gibt nicht wenige Gründe, warum dieses Körpergefühl trügerisch sein kann, warum es bei den meisten vom tatsächlichen Status quo abweicht – und warum es immer schlechter wird, je leistungsorientierter, je optimierungsgetriebener unsere Gesellschaft sich entwickelt.
Dr. Marc Weitl,
CEO von cardioscan, war Kunstturner und hat in Sportmedizin promoviert mit dem erklärten Ziel, den plötzlichen Herztod bei Sportlern zu bekämpfen. Aus dieser Motivation heraus gründete er 2001 nach vielen Jahren in Klinik und Forschung in Hamburg die cardioscan GmbH für eine bessere Diagnostik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Den komplettem Artikel finden Sie in der aktuellen bodyLIFE Ausgabe 07/2021 oder als kostenlosen Download im STORE.
Foto: ZinetroN – stock.adobe.com,Krakenimages.com – stock.adobe.com; Dr. Marc Weitl