Das Dschungelbuch der Führungskräfte
Eine „Leadership-Safari“ praktisch erlebt
Thomas ist frischgebackene Führungskraft und blickt zurück auf die Ereignisse der vergangenen Wochen: Er war gefrustet von seinem Nachwuchsteam und verhielt sich ungeduldig seinen Mitarbeitern gegenüber. Bisher scheint er sich erfolgreich durch den „Leadership-Dschungel“ gekämpft zu haben, doch die wichtigste Etappe liegt noch vor ihm: der Führungsalltag. Und der ist einer Safari gar nicht mal so unähnlich.
Thomas dachte an die Art von Urlaubssafaris, die mit einer geführten Tour im ersten Moment aufregend wirken und viel Spaß machen, wobei man aber immer auf seinen Tourguide vertrauen kann. Eine Safari ohne eine solche Begleitung wäre nicht zu empfehlen – das war zumindest die Meinung seiner Reiseagentur bei der letzten Urlaubsplanung. Und so traf Thomas eine Entscheidung: „Ich werde der Tourguide meines Teams und setze so unsere gemeinsame Safari der letzten Wochen fort. Ich führe mein Team zum Ziel, reiße es mit Leidenschaft mit, gehe mit meinen Mitarbeitern an ihre Grenzen, aber überfordere sie nicht.“ Dieses Bild gefiel ihm deutlich besser, um auch einmal abstrakter an den „Alltagsdschungel“ heranzugehen und Lösungen zu erarbeiten, als immer nur über das verstaubte Führungsbild aus vergangenen Zeiten zu grübeln. Eine Reise, die weckt neue Geister – ein übliches angesetztes Teammeeting lässt die Leute doch nur einschlafen.
Dieses Fernweh löste in Thomas einen Drang nach Bewegung und nach draußen aus: In „Mitarbeiter bewegen“ steckt „Bewegung“ und in „Neue Wege gehen“ steckt „Gehen“. Das sollte man wörtlich nehmen! Also macht sich Thomas auf zu seiner eigenen Safari in der Natur mit folgender Frage im Gepäck: „Wie motiviere ich mein junges Team zur Extrameile, ohne dass es sich nach einem Marathon anfühlt?“
Etappe 1: Der schnelle Vogel fängt den Wurm
Thomas erinnerte sich im Freien an die Anfänge seiner Reise als Führungskraft. Warum hat er diese Reise überhaupt angetreten? Verantwortung tragen, Entwicklung bewirken – das waren zwar abgedroschene Phrasen im Bewerbungsgespräch, jedoch im Rückblick nach wie vor der Kernantrieb. Aber auf einer wirklichen Safari zählen essenzielle Werte und überlebensnotwendige Ehrlichkeit: „Es bringt mir nichts, mir vorzumachen, dass ich theoretisch am Tag 100 Kilometer laufen könnte – aber das noch nie gemacht habe.“ Mit dieser Ehrlichkeit tauchten schnell weitere entscheidende Antriebsgedanken bei Thomas auf. Wirklich bedeutend war ihm zum Start in die Führungsrolle eine schnelle und ganz persönliche Entwicklung – auf finanzieller und hierarchischer Ebene sowie auch im Status. Am Anfang war ihm das vielleicht wichtiger als jetzt, aber es war entscheidend für die erste Etappe. Er wollte definitiv von einer Katze zum Löwen wachsen, am liebsten über die VIP-Fastlane- Boarding-Priority.
Diese Einsicht war für Thomas so bedeutend, dass er Rast machte und sich all diese Warum-Gedanken notierte. In Afrika spricht man von den Big Five: Büffel, Elefant, Löwe, Leopard und Nashorn. Nach einer langen inneren Reise erkannte Thomas nun seine eigenen Big Five: Verantwortung, Entwicklung, Leidenschaft, Beteiligung und Erfolg. Allein diese Begriffe zu visualisieren löste in ihm fast den Willen aus, die Tour abzubrechen: ab ins Büro und genau das umsetzen, war sein Antrieb – die Leidenschaft schien neu entfacht zu sein. Aber kein Tourguide bricht schon beim Aufsteigen auf den Landrover eine Safari ab. Er schien also noch nicht einmal die Hälfte der Reise geschafft zu haben.
Etappe 2: Der Führungsfrust ist eine Mücke
Thomas entschloss sich also, die Tour fortzusetzen. Sein Ziel: „Am Ende der Reise habe ich den Weg für meinen Leadership- Tourguide gefunden.“ Natürlich ist der Gedanke zu anfänglichen Motivatoren meistens motivierend und anspornend und sie helfen, eine anstrengende Tour auch wirklich fortzusetzen. Doch schnell kommen auch die Mücken, die man manchmal im Zelt hört und deswegen nicht einschlafen kann. Manchmal stechen sie unbemerkt auf der Reise zu und man kann nachts vor lauter Juckreiz kein Auge zumachen. So oder so sind sie im „Alltagsdschungel“ allgegenwärtig. Kurios ist nur – so groß dieser Frust zu sein scheint: Vor seiner Reise hat sich Thomas nie von ihnen aufhalten lassen. „Nie wieder reisen, die Mücken haben mir bei der vergangenen Tour den letzten Nerv geraubt“ – dieser Gedanke kam meistens nur, wenn es schon zu spät war. Ein passender Vergleich zu Thomas‘ Führungsmotivation: Hätte er am Anfang seiner Safari gewusst, welchen Frust er im Büroalltag erleben wird, hätte er dann die Reise angetreten? Warum also im Alltag ständig an die Mücken von letzter Woche denken? Ein Gedanke brannte sich Thomas ein; er war hier ja auch bitterlich ehrlich: „Es gibt kein Führungsfrust- Mückenspray.“ Er musste also so ein Mittel für seine kommende Arbeitswoche finden, und zwar nicht nur für sich, sondern für sein ganzes Team. Er wusste, dass manche Mückenstiche mehr jucken, andere weniger. Er fragte sich also: „Warum werde ich im Alltag manchmal so zerstochen?“ Im selben Moment kamen ihm einige Begriffe in den Sinn: Stress, Inkompetenz der Mitarbeiter, Zeitdruck … Was waren also die Big Five in seinem Alltag? Unzuverlässigkeit, unehrliches Umfeld, Egoismus, Ziellosigkeit, Antriebslosigkeit des Teams. Verglichen mit seinen antreibenden Faktoren merkte Thomas direkt, wie sich seine Schritte verlangsamten und seine Laune sank. Diese Big Five schienen demnach im Alltag eine wirklich große Rolle zu spielen. Er musste seinen Weg zu Ende gehen, um wirkliche Oasen für seine Führung zu finden. Die Einsicht allein brachte ihm aber noch keine Lösung, seine Safari zum Erfolg zu führen.
Etappe 3: Die Fata Morgana wird zur Oase
Thomas entschied weise, einfach weiterzugehen, ohne jegliche Hektik. Am Folgetag wurde ihm klar: Die ersten zwei Etappen waren genau die Etappen, die er mit seinem Team auf dem Weg zur Oase gehen muss. Warum sitzen denn seine Mitarbeiter täglich am Schreibtisch, erleben im „Bürozelt“ ebenso viele Mückenstiche … und was sind die Faktoren, die sie hemmen, einfach nur ihre Leidenschaft für die Arbeit wirken zu lassen? Er entwickelte schnell einen Gedanken: Um sein Team im Alltag gut durch den Dschungel zu führen, muss es auch einmal diese Tour mitmachen – die „Leadership-Safari“, um seine eigenen Big Five zu erkennen.
Thomas fand einen einfachen Weg, damit sein Team diese Safari auch antreten konnte, ohne einen Landrover für alle mieten zu müssen. Er entschloss sich, allen von seiner Reise zu berichten, und fand dabei viele interessante Argumente für eine bürotaugliche Safari. Erzählt Thomas von seinem anfänglichen Antrieb, spornt das sicherlich nicht nur seine junge Mannschaft an. Der Weg muss gegangen werden. Priority-Lane gut und schön, doch diese Safari muss getan werden. Thomas ertappte sich: Er selbst wollte am Anfang seines Weges vom Einstieg zum Aufstieg gebeamt werden. Er kannte viele andere Führungskräfte solcher Art – junge Manager, die lieber gestern als morgen an der Spitze sein möchten. „Dieser Antrieb ist zwar gut, aber die Erfahrung fehlt nun mal.“ Er rückte die störenden Mücken in den Vordergrund – nicht zur Demotivation, sondern zur Vertiefung der Sensibilität. Jeder sucht nach einem passenden Mückenspray und lässt es nicht zu Hause. Ein „Lagerfeuergespräch“ schafft großartiges Vertrauen für die Teamarbeit. Und ohne Vertrauen in den Tourguide geht keiner den ersten Schritt mit ihm. Wenn jeder dabei merkt, dass auch er selbst den Weg gegangen ist, erschafft das eine Reisegruppe mit Biss und Vertrauen zueinander.
Was erwarten junge Mitarbeiter von ihrer Führung?
Die Safari ist zu Ende, Thomas ist wieder in der digitalen Welt angekommen. Um sicherzugehen, dass er auf seiner Safari keinen Irrweg gefunden hatte, befragte er vertrauenswürdige Quellen nach dem Weg, den er da ging. War sein Pfad auch der richtige? Spannend schien, dass in ganz Europa die Prioritäten auf genau diese Reise gesetzt wird (vgl. Global Wealth Report 2020). Zahlreiche Unternehmen postulierten folgende Big Five:
1. Talent-Management und Leadership.
2. Strategische Ausrichtung der Personalarbeit/ Personalanalyse.
3. Personalgewinnung: Arbeitgebermarke, Einstiegsprozess von neuen Mitarbeitern.
4. Organisation und Management von Mitarbeitervielfalt in Unternehmen.
5. Interne Kommunikationsprozesse im Unternehmen (u. a. Social Media).
Die Big Five der jüngeren Generationen lauten nach dem Corporate Leadership Council von 2004 jedoch wie folgt:
1. Engagement braucht einen Sinn. Werte und das „Warum“ sind von hoher Bedeutung für die Bindung der jüngeren Generationen.
2. Engagement ist Teil einer Leistungskultur. Für Leistung möchten die Mitarbeiter etwas zurückbekommen.
3. Emotionales Commitment hat einen direkten Einfluss auf „Extrameilen“.
4. Rationales Commitment steuert die Bindung an ein Unternehmen. Transaktionsbeziehungen v. a. mit dem Vorgesetzten sind von hoher Bedeutung.
5. Unternehmen müssen einen einheitlichen Ansatz finden. Transparente Karriere- und Entscheidungswege sind ein Grundsatz für eine erfolgreiche Bindungskultur.
Talent-Management hat nach wie vor die höchste Unternehmenspriorität. Junge Mitarbeiter brauchen, um motiviert zu bleiben, einen Sinn, einen Antrieb, ein erklärbares „Warum“ – eben ihre persönlichen Big Five.
Da war doch noch was … die „Extrameile“
„Die Extrameile löst man durch einen motivierenden Startschuss aus. Der Läufer braucht im Anschluss Versorgungsstationen auf dem Weg zur Ziellinie, die immer weiter versetzt wird.“ So gibt es Thomas weiter, der seine Ziellinie in den letzten Etappen immer weiter angepasst hat. Er hat dabei eins verstanden: Er musste mit Geduld und Motivation seine eigene Definition von „Leadership“ finden. Auf dem Weg ist er dabei auf viele hilfreiche Tour-Tipps gestoßen sowie über viele Fata Morganas. Beides hat ihm geholfen, den Weg durch den Dschungel zu meistern. Das Ziel und die ursprüngliche Aufgabe seiner Führungsrolle hat er nun verstanden: Er löst den Startschuss zur Extrameile aus, indem er die Motivation seiner Mitarbeiter zum Sprint herausfindet, sie auf ihrem Weg als Mentor begleitet und die Ziele auch immer wieder anpasst. Führung ist für ihn kein Selbstläufer – nein, Führung ist „Bestimmung von Bewegung“.
Talent-Management braucht also einen Sinn. Darauf aufbauend kreiert Thomas ein neues Engagement in seiner jungen Mannschaft – die Safari hat sich also gelohnt. Diese Reise können nun alle mitmachen.
Simon Kentsch
Simon Kentsch ist selbstständiger Interim Manager und Unternehmensberater mit dem Fokus auf Führungskräfteentwicklung und Talent Management. Darüber hinaus ist der Wirtschaftspsychologe Lehrbeauftragter und Dozent an der Fachhochschule des Mittelstandes Bielefeld und seit 2018 zudem Head of Operations bei der LOFT Holding GmbH.
www.simonkentsch.de
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