„Von der Überholspur in den Leerlauf“
Interview mit Martina Voss-Tecklenburg (links) und Volker Lichte (zweiter von rechts)
Der Profisport hat vereinzelt das Training wieder aufgenommen und auch in den meisten Bundesländern sind die Studiotüren wieder geöffnet. Martina Voss-Tecklenburg, Trainerin der deutschen Frauen-Fußballnationalmannschaft, und Volker Lichte, Key Account Manager bei Matrix, sprechen im Interview u. a. darüber, wie die Coronakrise ihren privaten und beruflichen Alltag verändert hat, wie das Training in dieser schwierigen Zeit aussieht und welche Auswirkungen die Pandemie auf den Profisport und die Fitnessbranche hat.
body LIFE: Welche Auswirkungen hat die Krise jeweils auf Ihren privaten und beruflichen Alltag?
Martina Voss-Tecklenburg: Als Bundestrainerin war es für mich natürlich eine ganz neue Situation, rund zehn Wochen im Homeoffice zu sein; darauf musste ich mich auch erst einlassen. Aber das ist mir sehr gut gelungen, da der DFB schon früh auf die Situation reagiert hat. Wir haben über 30 Projekte angeschoben, die die Trainer federführend betreut haben. Wir hatten Online-Trainertagungen, virtuelle Fortbildungskurse mit den Bundesligatrainern und vor allen Dingen haben wir unsere U-Nationalspielerinnen auf hervorragende Art und Weise betreut. Was das Thema „Kommunikation“ angeht, hat sich durch die regelmäßigen Calls auf jeden Fall einiges verändert.
Privat war es natürlich auch eine Umstellung – seit meinem 15. Lebensjahr war ich sicher keine zehn Wochen mehr am Stück zu Hause. Aber ich habe das Kochen für mich entdeckt, habe viel im Garten gearbeitet, viele Projekte außerhalb angestoßen und nicht zu vergessen: Ich habe mein Fitnesslevel steigern können. Mit der Anschaffung zweier Bikes und eines kleinen Outdoor-Gyms, das ich täglich nutze, fühle ich mich jetzt viel fitter als vor der Coronakrise.
Volker Lichte: Die Automatismen sind nicht mehr da. Diese gewohnten Abläufe und Selbstverständlichkeiten im täglichen Handeln sind weg. Das erforderte ein Umdenken und eine Veränderung in der Einstellung. Wichtig ist einfach die Akzeptanz dessen, was möglich ist. Beruflich kann ich es so bezeichnen: von der Überholspur in den Leerlauf – denkt man nur an die großen Sportereignisse wie die Fußball-EM oder die Olympischen Spiele; abgesehen von den ganzen Länderspielen, die wir alle mit unseren Geräten begleitet hätten. Das war schon bitter. Aber ich gehe einfach nach dem Motto vor: „Stop. Look. Start.“ Jetzt heißt es halt, wieder durchzustarten, aber anders eben …
body LIFE: Frau Voss-Tecklenburg, in den vergangenen Wochen wurde viel in Kleingruppen trainiert. Welche Vorteile ergeben sich dadurch und ist diese Art des Trainings gar ein Modell für die Zukunft?
Martina Voss-Tecklenburg: Als Trainerin weiß ich natürlich, dass das Kleingruppentraining viele Vorteile hat. Insbesondere in Profistrukturen, bei 6–8 Einheiten in der Woche, wird das Kleingruppentraining immer wieder intensiv genutzt, um beispielsweise Spielerinnen individuell besser zu machen.
In der Talentförderung bei den Kindern bringt das Kleingruppentraining jedoch viel, viel mehr. Oft scheitert es aber an der fehlenden Manpower. Die Spielerinnen haben jetzt ein sehr positives Feedback gegeben und gemerkt, dass sie immer Ballkontakt hatten, immer gefordert und permanent im Fokus waren. Deshalb glaube ich, dass diese Art des Trainings wichtig ist. Es muss sich aber immer die Frage gestellt werden: Wann bringe ich es wo und wie oft ein? Es ist zudem auch eine hervorragende Form, um die Spielerinnen in die Verantwortung zu nehmen und sie das Training selbst organisieren zu lassen.
body LIFE: Was bei den Profis das Kleingruppentraining war, war bei den Amateuren durch die Schließung der Studios das Hometraining. Der Versand von Fitnessgeräten ist in dieser Zeit enorm gestiegen – wird das Hometraining auch nach der Krise beliebt sein?
Volker Lichte: Davon gehe ich stark aus. Ich nehme es so wahr, dass das Gesundheitsbewusstsein bei einem großen Anteil der Bevölkerung gestiegen ist. Eine Konsequenz daraus ist das Training zu Hause, wobei es auf keinen Fall das Training im Fitnessstudio ersetzen kann. Nach dem Prinzip „Sowohl als auch“ ist es aber insgesamt ein Gewinn für das tägliche Wohlbefinden und die individuelle Gesundheit. Ich erkenne auch im Spitzensport genau diese Entwicklung, dass neben dem Mannschaftstraining zunehmend auch auf ein ergänzendes Training zu Hause geachtet wird. Fazit für mich: das gute aus dieser Krise mitnehmen und in den gewohnten Ablauf integrieren. Da fallen jedem Einzelnen sicherlich eigene, individuelle Beispiele ein.
body LIFE: Frau Voss-Tecklenburg, hat sich die Einstellung der Spielerinnen zur körperlichen Fitness durch die Krise verändert?
Martina Voss-Tecklenburg: Die Einstellung war schon immer sehr gut und positiv, deswegen würde ich nicht sagen, dass sich diese geändert hat. Was sich geändert hat, ist die Herausforderung. Es ist natürlich etwas anderes, ob ich ein angeleitetes Training habe, ob ich Leute habe, mit denen ich trainieren kann und die mich pushen, oder ob ich ein Typ bin, der vorausgeht und andere mitzieht, als wenn ich individuell trainieren muss. Das bedeutet, ich brauche eine klare Struktur, ein hohes Maß an Eigendisziplin, ich muss mir Herausforderungen selbst und individuell setzen.
Es gab Spielerinnen, die damit sehr gut umgehen konnten, aber auch welche, die dabei viel Unterstützung benötigten. Hier waren wir wieder Dienstleister und Partner und haben versucht, diese Unterstützung zu geben. Es kann auf jeden Fall einen Lerneffekt haben, wenn ich zuvor nicht der Typ dafür war, eine hohe Eigenmotivation zu entwickeln.
body LIFE: Wie sind Sie beim DFB generell mit der Krise umgegangen und haben Sie einen Nutzen daraus ziehen können?
Martina Voss-Tecklenburg: Der DFB ist speziell mit unserer Thematik, dem fehlenden Training auf dem Platz, sehr gut umgegangen. Insgesamt ziehen wir natürlich einen Nutzen – wir kamen online zusammen und haben u. a. Module entdeckt, auf die wir sonst nicht gekommen wären. Wir haben neue Formen des Zusammenarbeitens entdeckt, wie man Workshops abhalten kann, ohne dass man sich physisch treffen muss. Man konnte also auch ein anderes Zeitmanagement entwickeln. Trotz allem bin ich ein sehr emotionaler und empathischer Mensch, der diese physischen Kontakte letztendlich auch benötigt.
body LIFE: Welche Lösungen haben Sie als Gerätehersteller mit anderen Vereinen/Verbänden gefunden, um die Krise zu meistern?
Volker Lichte: Ich nenne es mal so: Um die Krise bestmöglich zu bewältigen, bedarf es zunächst mal einer vertrauensvollen Partnerschaft mit den nationalen Verbänden. Im Rahmen dieser Möglichkeiten haben wir dann zumeist individuelle Gerätelösungen für die einzelnen Spieler und Athleten gefunden. Es waren zumeist einfache Lösungen mit IC Bikes, Bänken und Functional-Zubehör für zu Hause. Sicherlich gab es auch Ausnahmen, indem ein Bundesligist mal eben für seine Spieler Laufbänder für zu Hause geordert hat. Es ist für uns als der Partner im Spitzensport elementar wichtig, flexibel, zuverlässig und mit voller Begeisterung zu agieren.
Sei es das Bike für den Hockeynationalspieler oder das Fitnesszelt für unsere Mannschaft auf dem adidas Campus in Herzogenaurach.
body LIFE: Zahlreiche Sportereignisse wurden ins kommende Jahr verschoben. Wird 2021 eine logistische Herausforderung für Sie?
Volker Lichte: Ein deutliches Ja! Es wird wie in vielen Bereichen nach dieser „Leerlaufphase“ ein volles Durchstarten geben, bei dem 120 Prozent Leistung, Aufwand und Einsatz notwendig sind. Ich bin überzeugt davon, dass wir das als Team erneut meistern werden. Aber wir haben ja auch genügend Zeit, uns darauf vorzubereiten – zumindest aus meinen Erfahrungen bislang. Nur haben wir auch erfahren, dass diese Planungssicherheit seit Corona nicht mehr besteht. Auch das gilt es zu berücksichtigen.
body LIFE: Welche Auswirkungen hat die Krise auf den Profisport bzw. die Fitnessbranche?
Martina Voss-Tecklenburg: Das wird sich in vielfältiger Art und Weise erst in der Zukunft zeigen. Derzeit versuchen alle, diese Krise so gut es geht zu bewältigen. Das bedeutet große wirtschaftliche Einschnitte und Herausforderungen sowie ein neues Krisenmanagement. Es gibt jetzt aber auch eine Chance: Man ist in der Krise zusammengewachsen, es gibt einen größeren Solidaritätsgedanken.
Es gab beispielsweise einen Solidarfonds im Fußball. Die Spielerinnen mussten sich jetzt auch mal mit einer anderen Themenwelt befassen, bei der ihnen bewusst wurde, dass sie extrem privilegiert sind. Plötzlich wird einem klar, welchen Mehrwert Zuschauer beim Sport haben, welchen Mehrwert es hat, mit Menschen draußen Sport machen zu können, welchen Mehrwert der Teamgedanke, die sozialen Kontakte haben. Ich hoffe, dass all dies eine gewisse Nachhaltigkeit mit sich bringt und dass wir uns bestimmte Werte, die wir jetzt in der Krise schätzen gelernt haben, bewahren können.
Volker Lichte: Wie bereits erwähnt, sehe ich die „Selbstverantwortung“ als einen der Begriffe dieser Krise.
Das bedeutet auch selbst verantwortlich für seine Gesundheit zu sein! Dafür bieten die Fitnessclubs die besten Voraussetzungen. Ich bin überzeugt davon, dass sich diese Qualität mittel- und langfristig durchsetzen wird. Der Weg dahin wird jedoch sehr steinig und hart werden, da noch eine große Zurückhaltung in der Bevölkerung besteht, wieder in das gewohnte Gym zu gehen. Ich rechne damit, dass wir ab dem Herbst wieder über steigende Besuchs- und Mitgliederzahlen sprechen werden.
Nichtsdestotrotz hilft nicht nur Optimismus, sondern auch Realismus und das bedeutet, die Angebote flexibel auf die geänderten Bedürfnisse anzupassen und verstärkt ergänzende Online-Leistungen anzubieten.
Im Profisport bestimmen natürlich noch ganz andere Zusammenhänge das Geschehen. Viele nationale Ligen haben den Spielbetrieb eingestellt und Mannschaften stehen somit vor einer wirtschaftlichen Herausforderung. Die Abhängigkeit von TV-Geldern, Zuschauereinnahmen und Merchandising ist dort viel größer. Die Fußballbundesliga wird wohl zumindest die Saison zu Ende spielen. Rede ich mit Spielern und Trainern, so sind jedoch alle nur froh, wenn dieses Szenarium endlich vorbei ist. Spaß macht das nämlich nicht, ohne Zuschauer zu spielen. Ich rechne damit, dass die neuen Spielserien verspätet im September wieder starten, aber alles ohne Zuschauer bzw. sehr eingeschränkt mit Abstand.
In 2021 werden wir dann hoffentlich wieder zurück in Richtung Normalität kommen. Nur eines steht fest: Es wird alles nicht mehr so sein, wie es einmal war. Die „alte Welt“ kommt so nicht mehr zurück, damit müssen wir leben und das Beste daraus als Gesellschaft, Unternehmen und vor allem individuell machen.