Wirtschaftspsychologie
Trägt sie zur positiven Entwicklung von Führungskräften bei?
Effektive Führung ist ein elementarer Erfolgsfaktor. Das Angebot an Ratgeberliteratur zu diesem Thema wächst stetig; leider finden sich darunter aber auch viele pseudowissenschaftlichen Publikationen. Hier stellt sich die Frage, ob Unternehmen evidenzbasierte wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychologie verwenden können und ob fundierte Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik und nachgelagerte Maßnahmen Teil einer Führungskräfteentwicklung sein können.
Denkt man an Psychologie, fällt vielen Menschen zunächst Freud mit seiner Couch ein oder die klinische Psychologie, die verschiedene Therapieformen ersonnen hat, um psychische Erkrankungen zu lindern. Für Unternehmer und Führungskräfte stellt sich die Frage, ob ein Psychologe befähigt ist, die Wirksamkeit der Unternehmensführung zu steigern. Studierende der Psychologie erwerben grundlegende Kenntnisse zum menschlichen Erleben, Verhalten und Handeln. Diese lassen sich auf unterschiedliche Bereiche anwenden, um einen Beitrag zur Lösung dringender Probleme zu leisten. Einer dieser Bereiche ist die Betriebswirtschaft bzw. das berufliche Umfeld, in dem sich Menschen befinden. Als der Teilbereich der Psychologie, der sich mit dem menschlichen Verhalten und Handeln im betriebswirtschaftlichen Kontext auseinandersetzt, soll die Wirtschaftspsychologie Gegenstand dieses Artikels sein. Dabei sollte deutlich werden, welches Potenzial die Wirtschaftspsychologie in Bezug auf die Bearbeitung komplexer Herausforderungen wie der Mitarbeiterführung und der Organisationsentwicklung hat.
Noch immer im Schatten der klinischen Psychologie, verfügt die jüngste Wirtschaftspsychologie über ein sehr ausgefeiltes Instrumentarium, auf das in der Wirtschaft leider noch immer viel zu selten zurückgegriffen wird. Dabei bietet das menschliche Handeln in ökonomischen Sphären mannigfaltige Möglichkeiten, leistungsfähige psychologische Theorien, Modelle und Instrumente auf betriebswirtschaftliche Fragestellungen anzuwenden und so zu einer Problemlösung beizutragen. Die Modelle und Instrumente, die dabei zum Einsatz kommen, sind aufgrund der psychologischen Methodenfokussierung sehr gut fundiert und leistungsfähig – wenn sie kompetent in die berufliche Praxis übertragen werden. Am Beispiel „Führung und Führungskräfteentwicklung“ soll im Folgenden aufgezeigt werden, was möglich ist, wenn adäquate zur Verfügung stehende psychologische Modelle und Instrumente professionell und kompetent in der betrieblichen Praxis eingesetzt werden.
Führung ist ein komplexer lnteraktionsprozess
Die kompetente Führung von Mitarbeitern ist eine der größten Herausforderungen in der Unternehmensführung. Führung stellt einen extrem komplexen sozialen Interaktionsprozess dar und verlangt der Führungskraft Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen ab. Eine Führungskraft muss unter anderem analysieren, Ziele vereinbaren, planen, organisieren, delegieren, kontrollieren, Stabilität vermitteln, Veränderungen anstoßen, individuelle Entwicklung fördern, Entscheidungen treffen und um-/ durchsetzen und nicht zuletzt motivieren und Engagement und Commitment sichern. All diese Aufgabenfelder und noch einige mehr muss eine Führungskraft bewältigen und dabei die unterschiedlichsten Persönlichkeiten im Mitarbeiterteam integrieren. Ein lohnender Blick ist hier auf die Erkenntnisse der modernen Psychologie zu richten.
Persönlichkeitsdiagnostik mit dem Big-Five-Modell
Persönlichkeitspsychologische Studien machen zunächst deutlich, dass es wenig zielführend erscheint, allen Mitarbeitern ein und denselben Führungsstil oder Managementansatz als Pauschallösung überzustülpen. So, wie nicht jeder Mensch dieselben Gerichte oder dieselben Getränke mag, möchte auch nicht jeder auf dieselbe Art geführt werden. Vielmehr sollten bspw. die Ansprache, die Motivationsstrategien oder der Umgang mit Fehlern auf die individuelle Persönlichkeit des Geführten abgestimmt sein. Gleichzeitig sollte sich die Führungskraft ihrer eigenen Persönlichkeit bewusst sein und wissen, in welchen Bereichen diese den Anforderungen an Führung grundsätzlich entgegenkommt und wo dies nicht der Fall ist. Hierzu gehören folgende Kompetenzbereiche:
- Strategieorientierung (Marktchancen erkennen, Zukunftsperspektiven formulieren, Innovationen fördern)
- Ergebnissicherung (Probleme analysieren, Ziele vereinbaren, Ergebnisse kontrollieren und bewerten)
- Mitarbeiterentwicklung (Verantwortung übertragen, Mitarbeiter coachen, Feedback geben)
- Umfeldgestaltung (effektiv kommunizieren, Ressourcen bereitstellen, Konflikte managen, Veränderungen umsetzen, Arbeitsbeziehungen gestalten)
- Personale Einflussnahme (Selbstvertrauen vermitteln, Authentizität ausstrahlen, Ambiguitäten managen)
Wie kann dies gelingen? Auch hier hilft die Psychologie. Die Persönlichkeitspsychologie ist eine empirische Wissenschaft. Das bedeutet, sie verfügt über leistungsfähige und erprobte Verfahren zur Erfassung und Darstellung von Persönlichkeit. Die Grundlage zur Diagnose und Entwicklung in der Fitness- bzw. Gesundheitsbranche für Führungskräfte und den Führungsnachwuchs sollte somit ein ganzheitliches Kompetenzmodell sein, das Persönlichkeitsmerkmale, Motive, Werte und Einstellungen sowie Verhaltensweisen erfolgreicher und wirksamer Führung berücksichtigt. Hier soll das Big-Five-Modell aufgeführt werden, welches das Standardmodell zur Darstellung von Persönlichkeit in der Psychologie ist. Kern des Modells sind die fünf grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen, denen alle anderen Persönlichkeitsmerkmale zugeordnet werden können. So wird es möglich, die Komplexität von Persönlichkeit auf wenige Dimensionen zu reduzieren und ein empirisch fundiertes Persönlichkeitsprofil eines Menschen zu erstellen (vgl. Abb. 1).
Führungskräfteentwicklung auf empirischer Basis
Welchen Mehrwert psychologische Modelle und Methoden für die betriebliche Praxis liefern können, lässt sich am Beispiel „Führungskräfteentwicklung“ aufzeigen. Professionelle Führungskräfteentwicklung steht auf einer soliden empirischen Basis und folgt einem mehrstufigen Prozess:
1. Zunächst wird mit einem geeigneten Persönlichkeitstest auf Basis der Big Five ein realistisches Bild der Persönlichkeit einer Führungskraft (oder auch eines Mitarbeiters) erstellt. Dabei sollten verschiedene Teile der Persönlichkeit, wie Charaktereigenschaften, Motive und Kompetenzen, die im beruflichen Kontext relevant sind, betrachtet werden, um ein ganzheitliches Bild der Führungspersönlichkeit zu erhalten.
2. Wird das mittels Persönlichkeitsdaten erzeugte Persönlichkeitsprofil nun in kompetent durchgeführten Entwicklungsgesprächen auf das Thema „Führung“ angewandt, ist es möglich, tiefgehend in den individuellen Führungsstil der Führungsperson einzutauchen. Unterschiedlichste Fragestellungen können dabei bearbeitet und gelöst werden. Beispielsweise: Welcher Führungsstil passt zur Persönlichkeit? Mit welchen Persönlichkeitsstilen können die geforderten Führungsaufgaben gut bzw. weniger gut bewältigt werden? Wo können Entwicklungsfelder identifiziert werden, an denen eine Weiterentwicklung positiv wäre?
3. Solche und weitere Fragestellungen lassen sich mittels professionell durchgeführter Entwicklungsmaßnahmen, etwa Coachings oder Trainings, aufgreifen und noch differenzierter ausarbeiten. Im Rahmen dieser Maßnahmen wird dann z. B. anhand der Motive oder Bedürfnisse deutlich, wie ausgeprägt der Wunsch zu führen überhaupt ist oder ob andere Motive im Vordergrund stehen. Über die einzelnen Skalenauswertungen und deren Unterkategorien kann u. a. festgestellt werden, dass eine Person zwar eine sehr hohe Führungsmotivation hat, aber eine eher niedrig ausgeprägte Durchsetzungsstärke und/oder Belastbarkeit. Es können die Stimmigkeiten der benötigten Kompetenzen bzw. Eigenschaften in Verschränkung mit den geforderten Aufgaben verglichen werden, um so Diskrepanzen, die ausgleichbar sind, zu entwickeln. Durch die hier beschriebene Kombination aus fundierter Datenbasis und professioneller Entwicklungsmaßnahme können nachhaltig wirkende Fortschritte erzielt werden. Daher sollten fundierte Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik und nachgelagerte Entwicklungsmaßnahmen Teil jeder erfolgreichen betrieblichen Führungskräfteentwicklung sein.
Beispiel aus der Praxis
In der betrieblichen Praxis kann der Prozess der Führungskräfteentwicklung unter Verwendung wirtschaftspsychologischer Modelle und Verfahren konkret etwa wie folgt aussehen:
Schritt 1: Eine junge Mitarbeiterin (nennen wir sie Frau Mayer) entscheidet sich nach ihrem dualen Studium zum Bachelor in Gesundheitsmanagement, eine Führungsposition im gleichen Unternehmen anzustreben. Sie fühlt sich unsicher, ob sie überhaupt als Führungskraft geeignet ist bzw. ob Führen zu ihrer Persönlichkeit passt, da sie in ihrem Studium bereits bei ihrer eigenen Führungskraft mitbekommen hat, dass manche Mitarbeiter ein hohes Engagement und Commitment an den Tag legen, andere wiederum wenig am Produkt Gesundheit und Fitness interessiert sind. Da sie sich bewusst ist, dass sie sich in puncto Führung im Studium nur minimalistisch Kompetenzen aneignen konnte, möchte sie an einem betrieblichen Führungskräfteentwicklungsprogramm teilnehmen.
Schritt 2: Frau Mayer füllt einen fundierten Persönlichkeitstest aus, der mittels eines differenzierten Profils eine auf das Thema „Führung“ bezogene Standortbestimmung ermöglicht (z. B. das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeit
Schritt 3: Die Ergebnisse des Persönlichkeitstests bespricht Frau Mayer mit einem fachkundigen Berater. Gemeinsam identifizieren sie Frau Mayers individuelle Führungsziele und die zentralen Handlungsfelder zur Erreichung der Unternehmens- bzw. Bereichsziele.
Schritt 4: Neben mehreren Coaching- Sitzungen, in denen Frau Mayer mit dem Coach ihre einzelnen Entwicklungsschritte besprechen kann, sind weitere Module Teil des Programms, u. a. ein Workshop, in dem sich Frau Mayer mit anderen Nachwuchsführungskräften austauscht, ein Training, in dem die psychologischen Grundlagen des Führens vermittelt werden, und ein MentoringModul, in dem sie vom Wissen einer erfahrenen Führungskraft profitieren kann.
Werden die beschriebenen Entwicklungsmaßnahmen von einschlägig ausgebildeten Coaches und Personalentwicklern umgesetzt, die über ein fundiertes Verständnis der Themen „Persönlichkeit“ und „Führung“ verfügen,führt das in aller Regel zu einer größeren Sicherheit bei der Führungskraft und einer größeren Zufriedenheit bei den Geführten – und letztendlich zu einem größeren Unternehmenserfolg. Auf diese Weise tragen psychologische Modelle und Instrumente zur Lösung einer betriebswirtschaftlichen Aufgabenstellung bei – in diesem Fall zur Professionalisierung der Personalarbeit im Bereich Führungskräfteentwicklung in der Fitnessund Gesundheitsbranche.
Dr. Herbert Rehmer
Dr. Herbert Rehmer
ist Dipl.- Kaufmann (FH) und M. Sc. in Wirtschaftspsychologie und Leadership, M. A. in Personalentwicklung, sowie M. A. in Systemischer Beratung. Er promovierte an der LMU München in Humanbiologie und betreibt die Unternehmensberatung Dr. Rehmer, die Firma Betrieb & Gesundheit Dr. Rehmer sowie drei Fitnessanlagen in München. Zudem war er 2014 bis 2019 Professor an einer privaten Hochschule.
Kontakt: info@unternehmensberatung-dr-rehmer.de
Foto: metamorworks – stock.adobe.com