Die seelische Gesundheit im Blick
Interview mit Dr. Andrea Sauter, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden
Aktive und ehemalige Leistungssportler, hauptberufliche Trainer, aber auch leistungsorientierte Breitensportler sind die Klienten von Dr. Andrea Sauter. Wir haben mit der Expertin für Sportpsychiatrie über den Einsatz von Sport und Bewegungstherapie bei psychischen Störungen gesprochen.
body LIFE: Bei welchen Krankheitsbildern bietet sich eine Sport- bzw. Bewegungstherapie an?
Dr. Andrea Sauter: Zunächst ist der allgemeine Nutzen von Sport und Bewegung zu nennen, zu dem ein verbessertes Wohlbefinden, die Stärkung des Selbstbewusstseins sowie eine größere physische Belastbarkeit zählen. Hinsichtlich der Behandlung von psychischen Störungen ist der ergänzende Einsatz von Sport- und Bewegungstherapie aus diesen Gründen oft so hilfreich, dass man bei psychiatrischen und psychosomatischen Erkrankungen im Prinzip grundsätzlich eine Empfehlung für komplementäre Sport- und Bewegungstherapie aussprechen kann, von der man nur bei wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel schweren Essstörungen bei sehr niedrigem Body-Mass-Index oder Elektrolytentgleisungen sowie bei akut manischen Episoden im Rahmen von bipolaren Störungen, absehen muss. Gut untersucht ist mittlerweile die Wirkung von körperlicher Bewegung zur Behandlung depressiver Erkrankungen und Angststörungen. Für andere psychische Erkrankungen fehlen vergleichbar belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse aktuell noch. Was spezifische Effekte auf den Organismus betrifft, konnte man neurobiologisch belegen, dass insbesondere Ausdauersport zu einem verbesserten Gleichgewicht von parasympathischen und sympathischen Anteilen des autonomen Nervensystems beitragen kann. Hierdurch können sich sowohl eine stressbedingte Verringerung der Herzratenvariabilität, die oft krankheitsbegleitend bei Depressionen besteht, verbessern als auch erhöhte Cortisolspiegel, wie sie zum Beispiel bei Angstpatienten häufig vorkommen, wieder normalisieren. Darüber hinaus kann die Konzentration von körpereigenen Botenstoffen, deren Mangel Angststörungen oder Depressionen auslösen kann, unter regelmäßiger körperlicher Bewegung ansteigen. Auch konnte in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass sich beim Einsatz von Medikamenten gegen Depressionen durch die Kombination mit Sport- und Bewegungstherapie der antidepressive Effekt deutlich verstärken kann.
body LIFE: Welche Art der Bewegung eignet sich? Gibt es Studien oder Beispiele, die dies belegen?
Dr. Andrea Sauter: Da die Wirkungen von Sport und Bewegung auf das Individuum komplex sind, braucht es zur wissenschaftlich aussagekräftigen Auswertung von Untersuchungen oft große Probandenzahlen. Dabei werden bevorzugt gut definierbare Parameter verwendet, die es erlauben, auch mehrere Personengruppen miteinander zu vergleichen. Vor diesem Hintergrund kann man verstehen, warum viele Studien zu Ergometer- beziehungsweise Ausdauer- und Krafttraining existieren – häufig in einem zeitlichen Umfang von 90 Minuten pro Woche.
In diesem Zusammenhang fanden sich Hinweise darauf, dass entweder Ausdauersport allein oder eine Kombination aus aerobem Training und Krafttraining dem reinen Krafttraining in seiner positiven Wirkung auf depressive Symptome sowohl bei depressiv Erkrankten als auch bei depressiver Verstimmung ohne Krankheitswert überlegen ist. Bei Depressionen scheint Krafttraining geeignet, zusätzlich bestehende kognitive Störungen, visuelle Lernprozesse und Gedächtnisfunktionen teilweise zu verbessern. Bei Schizophrenie, einer Erkrankung, die durch Verzerrungen des Denkens und der Wahrnehmung gekennzeichnet ist, zeigten Studien unter mäßigem bis forciertem Sport Verbesserungen von den bei diesem Krankheitstyp vorkommenden sog. Positiv- und Negativsymptomen und allgemeinen kognitiven Funktionen bei den Betroffenen. Hinsichtlich der Überlegung, warum es wichtig sein kann, neben Ausdauersport und Krafttraining auch andere Formen von körperlicher Bewegung therapeutisch einzusetzen, hilft es, sich bewusst zu machen, was Sport- und Bewegungstherapie inhaltlich ausmacht: Neben der Aktivierung möglichst vieler Muskelgruppen pro Zeiteinheit bei moderater Belastungsintensität vorrangig im aeroben oder aerob-anaeroben Bereich ist die prozessorientierte Haltung des therapeutischen Settings, die im Gegensatz zur Ergebnisorientierung steht, ein wichtiges Merkmal. Hierbei wird bewusst auf die Definition eines zukünftig zu erreichenden Leistungsziels verzichtet und als Maß für das Wohlbefinden stattdessen die aktuelle Leistung beigezogen. Leistungssteigerungen sind zwar auch hierbei möglich, jedoch steht das Kennenlernen abwechslungsreicher Bewegungsabläufe im Vordergrund, um eine der gegenwärtigen psychischen und physischen Verfassung angepasste körperliche Aktivierung zu erfahren, die zu Wohlbefinden führt. Wen dabei welches Angebot besonders anspricht, bleibt eine persönliche Erfahrung. Dabei gilt der Grundsatz: Der Klient ist der Experte seines eigenen Befindens und Erlebens. Den Sport- und Bewegungstherapeuten kommt die wichtige Aufgabe zu, die Klienten zur Erfahrung anzuregen und sie dabei zu begleiten. Dabei ist es motivationsfördernd, wenn partizipativ Vorlieben der Klienten berücksichtigt werden und die Intensität der Therapieeinheit von diesen selbst gewählt werden kann, da dies zu einer höheren Wahrscheinlichkeit mit positiven Affekten assoziiert ist und geeignet scheint, ein Gefühl von Selbstkompetenz zu entwickeln. Ziel ist, dass Klienten die Erfahrung machen können, dass sie ihr eigenes Wohlbefinden mit einfachen Mitteln aktiv selbst beeinflussen können, da diese Erkenntnis die Entwicklung eines gesundheitlich orientierten Verhaltens und eine überdauernde Gesundheitskompetenz fördert.
body LIFE: Ihre Einrichtung ist „akkreditiertes Zentrum für seelische Gesundheit im Sport“. Was ist der Gedanke hinter diesem Netzwerk?
Dr. Andrea Sauter: Unter dem Dach der wissenschaftlichen Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), sind für Spezialgebiete hochspezialisierte Fachreferate mit ausgewiesenen Experten eingerichtet. Das Referat „Sportpsychiatrie und -psychotherapie“ vernetzt bundesweit Experten auf dem Gebiet der Sportpsychiatrie und -psychotherapie u. a., um sowohl die Prävention, Behandlung und Erhaltung der seelischen Gesundheit im Leistungssport als auch die Erforschung und bessere Integration der Sport- und Bewegungstherapie in die Behandlung psychischer Erkrankungen zu fördern. Um der Problematik der psychischen Erkrankungen bei Leistungssportlern umfassend begegnen zu können, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Spitzensportler einem hohen Ergebnisdruck ausgesetzt sind, der beinhaltet, dass Leistungseinbußen zu verhindern sind, insbesondere, weil die eigentliche sportliche Höchstleistungsphase oft nur eine Zeitspanne weniger Jahre umfasst. Diese Bedingungen fördern das Verdrängen psychischer Beschwerden und Ängste um die Karriere beim Bekanntwerden von seelischen Schwierigkeiten. Die in den Vereinen und Verbänden tätigen Sportpsychologen, Mentaltrainer und Karriereberater können bei dieser Thematik zusätzlich in einen Rollenkonflikt geraten, der die Haltung zum Umgang mit seelischen Beschwerden des Athleten möglicherweise erschwert, und sie verfügen meistens nicht über eine psychiatrische bzw. psychotherapeutische Ausbildung.
body LIFE: Wer sind Ihre Patienten und mit welchen Beschwerden finden diese zu Ihnen?
Dr. Andrea Sauter: Aktive oder ehemalige Leistungssportler aus Individual- und Mannschaftssportarten, aber auch hauptberufliche Trainer sowie leistungsorientierte Breitensportler suchen die Beratung einer sportpsychiatrischen und psychotherapeutischen Sprechstunde. Anlässe, die den psychischen Beschwerden vorausgehen, sind hier oft Krisen, ausgelöst z. B. durch körperliche Verletzungen, insbesondere bei Komplikationen oder Verzögerungen auf dem Weg zurück ins Training bzw. den Wettkampf, sportliches Scheitern, Wechsel von Kader- und Auswahlbereichen sowie Vertrags- oder Karriereende. Diese Stationen und Situationen in der Sportlerkarriere können Auslöser für akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen, Depressionen oder Angststörungen sein, die dann – unbehandelt – die kritische Situation weiter verschärfen. Weitere typische Problemfelder betreffen Essstörungen, die besonders in gewichtsabhängigen Sportarten vorkommen, somatoforme Schmerzstörungen, gehäuft im Nachgang von langwierigen Verletzungen, Missbrauch und Abhängigkeiten von substanzgebundenen Suchtmitteln und als Verhaltenssucht die Bewegungs- oder Sportsucht, die sich vor allem bei Ausdauersportlern findet. Weitere Fragestellungen an die Beratung ergeben sich beim Vorliegen chronischer Erkrankungen, wie z. B. bipolarer Störungen oder Schizophrenien, zur Optimierung der erforderlichen Dauermedikation hinsichtlich der Leistungsanforderungen des ausgeübten Sports z. B. in Bezug auf Reaktionsgeschwindigkeit und Muskelkontraktilität sowie der Vereinbarkeit mit den Kriterien der Nationalen Anti-Doping Agentur Deutschland NADA.
Foto: Lanserhof at The Arts Club, London