Serious Games
Gamification in der Rehabilitation und Physiotherapie
Für die Rehabilitation und Physiotherapie gibt es eine zunehmende Vielfalt an Exergames, die bei der Behandlung von Patienten helfen und die Motivation steigern. Sie erhöhen die Therapiehäufigkeit und verbessern dadurch die Trainingsfortschritte der Patienten. Besonders das virtuelle Training mit VR-Brillen spielt dabei eine bedeutende Rolle.
Serious Games sind Videospiele, die nicht nur zum spaßigen Zeitvertreib entwickelt wurden, sondern ernst zu nehmende Ziele verfolgen, wie zum Beispiel eine Verbesserung des Trainings in der Rehabilitation und Physiotherapie. Zu diesem Zweck wurden bereits einige Spiele entwickelt und getestet. Die meisten Entwicklungen beziehen sich auf die Neurorehabilitation. Dabei ist der Spaß am Spiel der Trigger zur Trainingsmotivation. Durch Serious Games soll mittels des Spaßfaktors nicht nur häufiger, sondern auch gezielter trainiert werden. Zudem sind die Spiele dazu konzipiert, in der Rehabilitation mehr Training mit weniger Personal zu ermöglichen. Auch die Fortführung des Trainings zu Hause soll durch sie verbessert werden.
Serious Games mit Schwerpunkt Neurorehabilitation
Fehlendes Personal und eine mangelnde Infrastruktur waren auch die Beweggründe für die Entwicklung des aus Spanien stammenden „Rehabilitation Gaming System“ (RGS), eines Produkts des Unternehmens eodyne mit Sitz in Barcelona. Entwickelt wurde es von der Universität Pompeu Fabra und dem Catalan Institute of Advanced Studies in Barcelona für die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten. RGS wird bereits in einer Reihe von Krankenhäusern eingesetzt. Das System benötigt lediglich einen Desktop-Computer und Manschetten mit Sensoren, die die realen Arm- oder Handbewegungen in die digitale Welt auf dem Bildschirm transferieren. Es gibt dabei unterschiedlichste Spiele für das Training der Hand bis hin zu Ganzkörperübungen, bei der auf einer Straße virtuelle Sterne in unterschiedlicher Höhe eingefangen werden müssen oder wie bei dem Spiel „Bubbles“ aus einem See steigende Blasen mit den offenen Händen gefangen und zum Platzen gebracht werden.
In Texas haben Veena Somareddy und Bruce Conti 2017 das Unternehmen Neuro Rehab VR gegründet. Conti, Leiter des „Neurological Recovery Centers“ in Fort-Worth, Texas, suchte für seinen Sohn, der sich von einer Hirnverletzung erholte, neue Therapiemöglichkeiten. Er wandte sich an die Spieleentwicklerin Somareddy. Gemeinsam mit ihr und den Ärzten und Therapeuten der Klinik entwickelten sie Virtual-Reality-Übungen für Patienten mit traumatischen Hirn- oder Rückenmarksverletzungen, Schlaganfallpatienten und Probanden mit Multipler Sklerose (MS). Das Unternehmen hat sich von einem kleinen Start-up zu einem expandierenden Unternehmen entwickelt, das bei der FDA (Food and Drug Administration, US-Behörde für die Zulassung von Lebensmitteln, Arzneien und Medizinprodukten) registriert ist. Mittlerweile gibt es ein tragbares System, ausgestattet mit einem kabellosen Virtual-Reality-Headset und einem Samsung-Tablet, das in den USA in verschiedenen Einrichtungen im Einsatz ist.
Die Entwicklung von Übungen ist extrem komplex
Durch die Nähe zum Patienten konnten die Programmierer die Software je nach Feedback der Patienten direkt während des Trainings anpassen. Zu den Spielen gehört zum Beispiel ein virtueller Supermarkt, in dem Patienten alltägliche Dinge wie das Greifen von Produkten in Regalen wieder lernen. Laut Neuro Rehab VR haben Übungen in einer virtuellen Realität eine evidenzbasierte Wirksamkeit und Vorteile, die durch Fallstudien nachgewiesen wurden. „Die größte Barriere war die Komplexität – also für verschiedene Krankheitsbilder Apps zu entwickeln, die bei allen funktionieren“, verrät Somareddy.
Immersion ist ein entscheidender Vorteil
Besonders das Gefühl, mit der VR-Brille tatsächlich physisch in der virtuellen Realität präsent zu sein (Immersion), spielt für den Trainingserfolg eine nicht unerhebliche Rolle. Durch das Eintauchen in die virtuelle Welt verändert sich die Wahrnehmung. Die reale Welt rückt in den Hintergrund und der Patient kann in der virtuellen Welt eine Hand bewegen, die er in der realen Welt (noch) nicht oder nur eingeschränkt bewegen kann. Dadurch können sich im Gehirn ganz neue neuronale Strukturen entwickeln, die dazu führen, dass Therapieerfolge schneller erzielt werden können. Den Effekt der Immersion macht sich auch das softwarebasierte Medizinprodukt „Rehago“ zunutze.
Virtuelle Spiegeltherapie für Schlaganfallpatienten
„Rehago“ wurde 2016 von Philipp Zajac in Tübingen entwickelt. Mit einem Team aus Informatikern und Spieleentwicklern entstand auf Grundlage der Spiegeltherapie eine App, die mit jedem Tablet, jedem Smartphone und jeder marktüblichen VR-Brille genutzt werden kann. Die App hilft Patienten mit halbseitigen Lähmungen nach einem Schlaganfall dabei, im Gehirn Verknüpfungen zu reaktivieren oder neu zu bilden, um die betroffenen Gliedmaßen wieder bewegen zu können. Aus dem Start-up von Zajac ging die ReHub GmbH mit Sitz in Leipzig hervor, die die App heute vertreibt und weiterentwickelt.
Die Therapie bei halbseitigen Lähmungen ist sehr langwierig und monoton. In schweren Fällen wird die Spiegeltherapie angewandt. Dabei bewegt der Betroffene zum Beispiel den Arm der gesunden Körperhälfte, der sich dann im Spiegel spiegelt und dadurch vorgaukelt, es sei die gelähmte Seite, die sich bewegt. So wird das Gehirn stimuliert. Das erfordert sehr viel Konzentration und wenn der Spiegel nur etwas kippt, ist die Illusion schnell dahin. Mit einer VR-Brille bleibt die glaubwürdige Illusion, dass sich in der virtuellen Welt der gelähmte Arm tatsächlich bewegt, erhalten.
„Rehago“ in Praxen bereits im Einsatz
„Rehago“ wird in Deutschland bereits in einigen Praxen für Ergotherapie eingesetzt. In Riesa (Sachsen) bietet die Ergotherapie-Praxis von Elisa Preiß diese virtuelle Therapie an. In der Ergotherapie ermöglicht Virtual Reality, dass Patienten dank der sogenannten Spiegeltherapie ihre gelähmten Gliedmaßen trainieren können. „Das funktioniert, indem sie durch die Bewegung des gesunden Arms in der virtuellen Umgebung auch ihren kranken Arm in Bewegung sehen“, sagt Elisa Preiß, Inhaberin der Praxis. „Diese Illusion und Spiegelung spricht die visuomotorischen Hirnareale an und aktiviert sie.“ Preiß hat sich aus persönlichem Interesse für die Arbeit mit VR entschieden und aktiv nach Geräten mit therapeutischem Nutzen gesucht. „Die Idee mit der Spiegeltherapie fanden wir sehr spannend und modern. Die Anschaffungskosten sind übersichtlich.“ Laut Angelika Lattner, Pressesprecherin der ReHub GmbH, ist die App mit VR-Brille und Tablet für Therapeuten ab 19 Euro pro Woche erhältlich.
„Wir nutzen die Brille – individuell angepasst – als Therapiemittel gut dosiert während der Therapieeinheiten“, sagt Preiß. „Sie ist ein Teil, aber umfasst nicht die volle Länge einer Sitzung.“
Von Vorteil sei, dass Patienten in der App verschiedene Übungen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen ausführen könnten und der Behandlungserfolg dokumentiert werde. „Die Brille kann nicht nur bei Schlaganfallpatienten verwendet werden, sondern findet zudem Anwendung im Rahmen eines ergotherapeutischen Hirnleistungstrainings, bei Neglectsymptomatik nach einem Schädel- Hirn-Trauma oder sogar bei Demenz im Anfangsstadium“, weiß Preiß. In Riesa werden die Kosten für die virtuelle Therapie im Rahmen der Ergotherapie zumeist in vollem Umfang von der Krankenkasse übernommen. Dafür ist nur eine ergotherapeutische Verordnung des behandelnden Arztes nötig.
Mehr Therapiemotivation und Therapieintensität
Auch Christoph Weinig setzt „Rehago“ in seiner Praxis für Ergotherapie in Heidelberg ein. „Wir haben uns für den Einsatz der Brille entschieden, weil Patienten und auch wir Therapeuten mit der reinen konventionellen Spiegeltherapie oft an unsere Grenzen stoßen“, sagt Weinig. „Die Spiegeltherapie ist nicht nur ein Training zur Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, sondern auch ein mentales Training. Hierbei müssen sich Patienten über einen längeren Zeitraum auf die Aufgaben konzentrieren. Sie müssen ein gutes Vorstellungsvermögen haben und die Bereitschaft mitbringen, ausdauernd zu arbeiten.“
Oftmals nähme die Motivation der Patienten nach einer gewissen Zeit ab und sie hörten auf, kontinuierlich weiter zu üben. „Gerade nach einem Schlaganfall zählen die Wiederholungen, die für die Genesung sehr entscheidend sind“, weiß der Therapeut aus Erfahrung. Der Einsatz der Brille wecke bei sehr vielen Patienten den Spieltrieb. Sie seien durch die spielerische Art und Weise dazu angehalten, ausdauernd zu arbeiten. „Dadurch kommen die Patienten auf die Wiederholungsanzahl, die für die Reorganisation des Gehirns entscheidend ist“, resümiert Weinig.
Das Training mit der App ist auch zu Hause möglich
Der Inhaber der Heidelberger Praxis sieht einen weiteren Vorteil darin, „dass Patienten jederzeit mit diesem System arbeiten können – ob zu Hause oder in der Praxis oder auch unterwegs.“ Es sei lediglich eine Internetverbindung notwendig. Je mehr Training die Schlaganfallpatienten insbesondere in den Wochen und Monaten nach dem Schlaganfall erhalten, desto besser ist die Prognose der motorischen Wiederherstellung. Brille und Software können gegen eine monatliche Mietgebühr von etwa 60 Euro zu Hause genutzt werden. „Bis auf die Brille und ein Tablet ist kein weiteres Therapiemittel notwendig“, sagt Preiß. „Für unsere Patienten hoffen wir, dass die Brille bald als Kassenleistung übernommen wird, da das Feedback sehr gut ist.“
Momentan bietet die ReHub GmbH zwei verschiedene Pakete an: eins für Fachpersonal und eins für Patienten. „Bei Letzterem sind wir gerade auf dem Weg, eine Digitale Gesundheitsanwendung – DiGA, App auf Rezept – zu werden, sodass die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen zukünftig auch zu Hause übernommen werden“, sagt Lattner.
Für Therapeuten wird sichtbar, was Patienten sehen
Eine Schwierigkeit bei der Behandlung mit VR-Brillen ist, dass die Therapeuten von außen nicht sehen, was der Patient in der virtuellen Welt sieht. Das erschwert die Unterstützung während der Therapie. Mittlerweile wurde dafür eine App entwickelt, die das Training mit der VR-Brille für Therapeuten auf einem Tablet sichtbar macht. Auch Irina Eichholz sieht in dem Einsatz von „Rehago“ einen Mehrwert für ihre Praxis in Neustadt an der Weinstraße. Dort können Patienten das virtuelle Training nicht nur in einer Einzelstunde, sondern auch im Gruppentraining nutzen. „Meine Erfahrungen sind sehr gut. Unsere Patienten konnten sich sehr schnell darauf einlassen. Die Handhabung ist sehr einfach und die Umsetzung auch. Unsere Patienten arbeiteten deutlich länger als bei der manuellen Spiegeltherapie“, sagt Eichholz. „Es macht Sinn, dann auch die zugehörige App für Therapeuten zu nutzen. So hat der Therapeut Einsicht in die Ausführung der Übungen des Patienten.“
Virtuelles Training mit Elektroenzephalogramm (EEG)
Einen Schritt weiter geht das Team um Professor Dr. Ulf Ziemann mit dem Forschungsprojekt „Rehality“. Das Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist ein Verbundforschungsprojekt der neurologischen Universitätsklinik Tübingen, dem Institute for Games an der Hochschule der Medien Stuttgart und der VTplus GmbH als Industriepartner. Gemeinsam entwickeln sie eine hochimmersive virtuelle Realität, in der Schlaganfallpatienten mit Lähmungen virtuell eine Bewegung wahrnehmen. „Unsere Hypothese ist, dass diese ‚Illusion‘ einer gesunden Bewegung, ähnlich wie in der Spiegeltherapie, bei der Reorganisation von Hirnnetzwerken in Kombination mit Physiotherapie hilfreich ist“, erklärt Dr. Christoph Zrenner, Mitarbeiter am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und am Universitätsklinikum Tübingen. „Zusätzlich messen wir Hirnströme mit EEG, um die virtuelle Umgebung für den jeweiligen Patienten individuell zu optimieren.“
„Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass der Zustand des Gehirns zum Zeitpunkt der Stimulation entscheidend dafür ist, ob es zu einer plastischen Veränderung der Hirnnetzwerke kommt oder nicht“, sagt Studienleiter Ziemann. Ziemann arbeitet daher an der sogenannten closed-loop Stimulation. Dabei liest und wertet ein Elektroenzephalogramm (EEG) die Gehirnaktivität in Echtzeit aus. Das Besondere daran: Die Daten erlauben dann, im optimalen Zeitpunkt das Gehirn zu stimulieren. Es wird also immer nur dann eine virtuelle Bewegung angezeigt, wenn der Proband tatsächlich mit maximaler Mühe versucht, die Hand zu bewegen. „Unser Ansatz, bei dem die VR-Therapie mit einer Messung der Hirnströme durch EEG kombiniert wird, ist aktuell noch in der Entwicklung und Forschung. Zum Projektabschluss ist eine klinische Erprobung mit Anwendungszentren geplant“, sagt der zuständige Projektleiter Dr. Bastian Lange von der VTplus GmbH. Die Wirksamkeit dieser Therapieform müsse zunächst in klinischen Studien nachgewiesen werden, bevor ein regelhafter Einsatz in Rehazentren realistisch wäre. Eine Zulassung als Medizinprodukt ist geplant.
Grenzen der virtuellen Therapie mittels VR-Brille
Laut Lange ist „eine Grenze der VR-Technologie bei der Neurorehabilitation nach Schlaganfall, dass zwar eine virtuelle Bewegung beispielsweise eines gelähmten Arms durch die VR-Brille sichtbar gemacht werden kann, der Arm dadurch aber nicht tatsächlich bewegt wird. Hier wäre die Kombination mit einem Exoskelett bzw. Rehabilitationsroboter möglich: Dieser könnte eine passive Bewegung in einem gelähmten Arm ermöglichen, ähnlich wie in der Physiotherapie. Weiterhin ist die Übungsdauer auf kurze Übungsabschnitte zu begrenzen.“ Für die Zukunft erwartet das Team rund um das Forschungsprojekt „Rehality“, dass Serious Games zu einer wichtigen ergänzenden Komponente in der Rehabilitation und Physiotherapie werden und sich in Zukunft als komplementäre digitale Therapien etablieren.
Eine Grenze der Therapie mit VR ist laut Angaben der ReHub GmbH das haptische Feedback, das Gefühl von einem Holzklotz in der Hand, das in der virtuellen Welt schwer zu übersetzen ist. „Momentan hängt die Haptik komplett an den Controllern, wobei in Zukunft auch Handtracking das Trainieren mit individuellen Fingern und ohne Controller ermöglichen wird“, sagt Lattner. „Durch die Controller, welche in der Hand gehalten werden, ist es außerdem schwierig, die unteren Extremitäten zu tracken.“ Dies sei jedoch mit externen Sensoren möglich. „Auch ohne Handtracking kann durch Handschuhe die Sensomotorik erweitert werden. Durch diese wird auch in Zukunft haptisches Feedback in VR möglich sein. Einige Brillen haben sogar Eye-Tracking, wodurch Augenbewegungen zum Training verwendet werden können.“
Rita Hoogestraat
Foto: Rehago