Trainieren ohne Diagnostik ist wie operieren ohne Befund
„Ein Training ist nur erfolgreich, wenn es an die individuellen Voraussetzungen des Trainierenden angepasst ist. Welches genau die Voraussetzungen sind, ermittelt man über eine umfassende Anamnese und eine fundierte Diagnostik.“ Jeder Trainer hat das so gelernt, jeder Trainer verkauft sein Training so. Doch wie sieht der Alltag tatsächlich aus? Nimmt eine Vorab-Diagnostik wirklich diesen zentralen Stellenwert im Trainingsalltag ein?
Jeder Fitnessclubbetreiber stellt sich regelmäßig die Frage nach dem Nutzen einer Diagnostik und hier besonders nach dem Kosten-Nutzen- Faktor. Die Palette von Diagnostiktools ist extrem breit sowohl von der Art der Technik und der erhobenen Parameter her als auch hinsichtlich der jeweiligen Investition. Allen Diagnostiktools gemeinsam ist, dass sie einen zum Teil nicht unerheblichen Personalaufwand mit sich bringen. Tests müssen durchgeführt, Ergebnisse interpretiert und natürlich bestenfalls in Trainingspläne integriert werden. Nicht zuletzt wegen dieses Aufwands ist die Diagnostik in vielen Fitnesseinrichtungen eine Zusatzleistung, die von den Trainern verkauft werden muss. Dies führt allerdings unweigerlich dazu, dass die Diagnostik meist nur im Eingangstest umfassend und im Zuge des Trainingsprozesses nur noch selten – oder wenn überhaupt, meist mit günstigen und weniger zeitaufwändigen Checks – durchgeführt wird. Spart man hier aber nicht am falschen Ende? Hat Diagnostik tatsächlich nur einen wirtschaftlichen Nutzen, wenn man sie als kostenpflichtige Zusatzleistung anbietet? Oder ist das zu kurz gedacht? Um das zu ergründen, müssen wir den Nutzen der Diagnostik sowie den Mehrwert für den Trainierenden und damit auch für den Club genauer unter die Lupe nehmen.
Wie ist Diagnostik im Trainingsprozess einzuordnen?
- Zielgerichtetes Training beginnt mit einer Anamnese und einer grundlegenden Diagnostik.
- Die hierdurch ermittelten Daten bzw. Erkenntnisse werden durch das Fachpersonal ausgewertet und interpretiert und finden Berücksichtigung in der Trainingsplanung – natürlich immer im Kontext mit der Zielstellung des Trainierenden. Die gewonnenen Erkenntnisse der Diagnostik können die Zielstellung grundlegend verändern, z. B. immer dann, wenn eine gewonnene Erkenntnis der Zielerreichung im Weg steht. Am Beispiel des noch Exkurses zum Thema „Bluthochdruck“ (siehe Kasten) ist es erforderlich, dass der Kunde aufgrund der Ergebnisse zunächst einen Arzt konsultiert. Unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse ist die Trainingsplanung gegebenenfalls neu auszurichten.
- Grundvoraussetzung für den Erfolg ist ein regelmäßiges Training anhand des erstellten Trainingsplans.
- Trainingsbegleitend werden die Fortschritte und letztlich die Zielerreichung mit weiteren Checks überprüft.
Warum Diagnostik?
Trainieren ohne Diagnostik ist wie operieren ohne Befund – erst einmal aufschneiden und dann schauen, ob der Bedarf einer Operation überhaupt gegeben ist? Oder: Trainieren ohne Diagnostik gleicht einem Blindflug mit ungewissem Ausgang. Es kann sein, dass der Trainerende zwar in die richtige Richtung steuert, allerdings bedingt durch Überlastungen vor dem Ziel eine Bruchlandung mit Schaden erleidet. Des Weiteren ist es durchaus möglich, dass der Trainierende einfach in die falsche Richtung fliegt, niemals das Ziel erreicht und irgendwann der Sprit, das heißt die Motivation, ausgeht. Nur zwei bildliche Beispiele von vielen weiteren potenziellen Zufallsergebnissen. Dem entgegen steht eine Trainingsplanung mit Vorab-Diagnostik für eine zielgerichtete Planung des direkten Wegs zum selbstgesteckten Ziel des Kunden. Bestenfalls über den schnellsten Weg, im Fall von Einschränkungen wie beispielsweise Erkrankungen oder Verletzungen gegebenenfalls über nötige zielführende Umwege. Sicherlich garantiert die Durchführung von Diagnostik nicht den Trainingserfolg. Richtig ausgewählt und eingesetzt, werden Fehlerquellen jedoch minimiert und ein mögliches Gefahrenpotenzial somit sichtbar aufgedeckt. Eine grundlegende Frage, die sich also jeder Entscheidungsträger im Fitnessclub stellen muss, ist, ob man das Training fundiert planen oder die Kunden „auf gut Glück“ ohne Diagnostik losschicken möchte. In diesem Kontext verlassen sich leider viele Trainer hinsichtlich des Gesundheits- und Leistungszustandes auf die Aussagen der Kunden. Mit Blick auf folgenden Datenauszug ist das jedoch ein gefährliches Unterfangen.
Exkurs: Diagnostik und Diagnose
Immer wieder herrscht Unklarheit über die Begrifflichkeiten Diagnostik und Diagnose. Diese Unklarheit führt leider dazu, dass einige Fitnessclubs keine Diagnostik anbieten. Natürlich dürfen Clubs Diagnostik im Sinne der Trainingsplanung, der Trainingsoptimierung und zur Erfolgskontrolle einsetzen. Allerdings dürfen keine Diagnosen wie beispielsweise „Bluthochdruck“ gestellt werden; dies obliegt einzig und allein einem Arzt. Ebenso verhält es sich mit Leistungstests, die blutig sind, z. B. eine Laktatdiagnostik. Hier ist eine medizinische Ausbildung Grundvoraussetzung, um rechtlich abgesichert zu sein. Hier raten wir zu einer juristisch detaillierten Abklärung, bevor solche Tests in das Diagnostikportfolio aufgenommen werden.
Exkurs: Datenauszug aus deutschen Fitnessclubs und Sportvereinen
Beschränken wir uns auf ein Krankheitsbild, den Bluthochdruck. Dann zeigt ein Auszug aus den Studienergebnissen unserer bundesweiten Studie in deutschen Fitnessclubs und Sportvereinen (n = 7 101), dass bei jedem fünften gemessenen Kunden, der nach eigenen Angaben „gesund“ ist, ein unentdeckter und behandlungsbedürftiger Bluthochdruck vorliegt. Verlassen wir uns also auf die Aussage der Trainierenden, besteht statistisch bei jedem fünften nach eigenen Aussagen gesunden Trainierenden die Gefahr einer Überbelastung und somit einer weiteren negativen Anpassung durch das dann viel zu intensive Training. Das bedeutet, dass sich schlimmstenfalls der Blutdruck trotz Training mit allen daran anknüpfenden Konsequenzen weiter verschlechtert. Das muss nicht sein, wenn einfach der Blutdruck regelmäßig kontrolliert wird. Am besten natürlich nicht nur mit einer einzelnen Messung, sondern mit wiederholten Einzelmessungen oder noch besser mit einem kontinuierlichen Messverfahren, damit die Wahrscheinlichkeit von Fehlmessungen minimiert wird.
Kein blinder Aktionismus
Verfallen wir aber nicht in blinden Aktionismus. Natürlich will man so viel wie möglich über den Kunden erfahren, aber eine unnötige Datenflut versperrt ebenso den Blick auf das Wesentliche. Jeder Clubbetreiber muss sich also die Frage nach den wirklich benötigten Daten für eine fundierte Trainingsplanung stellen.
Welche Diagnostik ist denn nun die richtige?
Beweglichkeitstests, Krafttests, Leistungstests, Stresstests, Körperzusammensetzungsanalysen, Belastbarkeitstests … Wie zuvor schon angesprochen, gibt es eine enorm breite Palette an Testmöglichkeiten. Die Entscheidung, welche Diagnostikkonzepte letztendlich die richtigen sind, muss jede Einrichtung für sich selbst entscheiden. Denn das hängt nicht zuletzt auch von der Zielgruppe ab, die bedient werden soll. Grundsätzlich gilt die Devise, dass natürlich nur solche Diagnostikgeräte oder Konzepte eingesetzt werden sollten, die einen wissenschaftlichen Nachweis über die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Ergebnisse erbracht haben. Denn Zufallsergebnisse erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Misserfolgs – und das sogar zweifach:
- Es besteht zum einen natürlich die Gefahr, dass die Ausgangssituation falsch definiert wird und der Kunde schlichtweg falsch trainiert.
- Zufallsergebnisse bergen zudem die Gefahr, dass eine potenzielle Verbesserung nicht durch einen Re-Check bestätigt wird – d. h. bei einem Kunden trotz eines Trainingserfolgs ein Misserfolg angezeigt wird, weil die Messtechnik keine zuverlässigen reproduzierbaren Ergebnisse liefert. Da der Erfolg von Fitnessclubs vom Erfolg der Trainierenden abhängt, sollte dem Zufall nicht zu viel Spielraum eingeräumt werden. Eine Verringerung des Zufallsfaktors kann erreicht werden, wenn auf eine bewährte Messtechnik gesetzt wird. Seriöse Diagnostikanbieter können die Aussagekraft ihrer Diagnostikkonzepte und gemessenen Parameter in der Regel entsprechend mit Studien belegen. Liegen solche Studien nicht vor, sollte man durchaus skeptisch sein.
Bei der Auswahl der Diagnostikkonzepte sollte auch zwischen Tests unterschieden werden, die einen direkten Einfluss auf den Trainingsplan haben können, und solchen, die eher einen trainingsbegleitenden Sinn haben, wie beispielsweise Erfolgskontrolle und Trainingsmotivation.
- Grundlegende Checks sind meist Belastbarkeitstests, wie die Erhebung des Belastungsblutdrucks. Damit kann ausgeschlossen werden, dass der Trainierende über seine Belastungsgrenze hinaus trainiert. Kurzfristig wäre das in der Regel kein Problem, könnte aber über einen längeren Zeitraum zu negativen Anpassungen im Organismus führen.
- Begleitende Checks sind meist Körperzusammensetzungsanalysen. Unbestreitbar liegt der herausragende Stellenwert dieser Analyse bei der Erfolgskontrolle und der Motivation des Trainierenden. Wer möchte nicht regelmäßig sehen, dass der Körperfettanteil sinkt und die Muskelmasse ansteigt? Je nach Ergebnis kann dann das Training angepasst werden. Diese Ergebnisse haben aber natürlich besonders zum Trainingseinstieg keinen grundlegenden Einfluss auf die Trainingsplanung. Ein Beispiel zur Erläuterung: Ein hoher viszeraler Fettanteil steht im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Bluthochdrucks. Der hohe Blutdruck hat einen direkten Einfluss auf die Trainingsplanung, da die Intensität entsprechend (nach unten) angepasst werden muss. Hier entscheidet also nicht die Messung des Viszeralfetts über die Trainingsplangestaltung, sondern die Ergebnisse der Blutdruckmessung.
Fazit
Ohne eine umfassende Anamnese und Diagnostik kann keine zielgerichtete Trainingsplanung erfolgen. Der Erfolg des Trainings hängt sonst vom Faktor Zufall ab. Allein der Einsatz von Diagnostik minimiert den Zufallsfaktor allerdings auch nicht automatisch. Für eine zufallsfreie Planung und Überprüfung des Trainings ist der Einsatz von wissenschaftlich geprüften Diagnostikkonzepten erforderlich. Welche Art der fundierten Diagnostik ein Fitnessclub letztendlich anbietet, hängt immer von der Zielgruppe ab, die bedient werden soll. Es stellt sich abschließend noch die Frage, warum Diagnostik häufig eine Zusatzleistung ist, die extra bezahlt werden muss – und das, obwohl der elementare Stellenwert der Diagnostik im Trainingsprozess und in der Erfolgsmaximierung unbestritten ist. Hier sollte sich jeder Entscheider im Fitnessclub die Frage stellen, ob der Erfolg des einzelnen Trainierenden tatsächlich von der Überzeugungs- und Verkaufskraft des Mitarbeiters oder der Investitionswilligkeit des Kunden abhängig gemacht werden sollte oder lieber nicht. Ist eine lang andauernde Mitgliedschaft und potenzielle Weiterempfehlung, bedingt durch nachweislichen Trainingserfolg, nicht wirtschaftlicher als die einmalige Einnahme durch den Zusatzverkauf Diagnostik? Sollte Diagnostik durch den zentralen Stellenwert im Trainingsprozess nicht logischerweise Teil des Mitgliedsbeitrages sein, um als Standardprozess zu gewährleisten, dass jeder Trainierende regelmäßig mit einem individuellen Trainingsplan (wieder oder weiter) auf die Erfolgsspur geführt wird? Denn trainieren ohne Diagnostik ist wie operieren ohne Befund.
Fotos: Gorodenkoff – stock.adobe.com; Daniel Rothmund; Peter Röhr
Daniel Rothmund & Peter Röhr sind beide Dipl.-Sportwissenschaftler und Lehrbeauftragte an der Universität Bielefeld im Arbeitsbereich „Sportmedizin – Gesundheit und Training“. Zudem sind sie Geschäftsführer von Valitudo – Zentrum für interdisziplinäres Gesundheitsmanagement und Entwickler von „Mein Gesundheitsmanager (MGM) – Die Online Fitnesskurse“ und „Mein Gesundheitsmanager (MGM) – Das Diagnostiktool“.
Infos: www.valitudo.de