Das unbekannte Volksleiden
Die schlechte Nachricht: Wir alle leiden unter Sarkopenie, denn sie ist ein degenerativer Prozess. Mit fortschreitendem Alter nehmen Muskelmasse und Muskelkraft immer mehr ab. Die gute Nachricht: Wir können etwas dagegen tun und uns – im wahrsten Sinne des Wortes – gegen die Degeneration stemmen.
MacDonald Critchley beschrieb 1931 das Krankheitsbild mit dem Verlust von Muskelmasse, was mit zunehmendem Alter an Arm- und Beinmuskeln erkennbar sei. Den Begriff „Sarkopenie“ sollte es jedoch erst ab 1989 geben. 2010 beschrieb die European Working Group on Sarcopenia in Older People (EWGSOP) die Sarkopenie als ein Syndrom, das von progressivem und generalisiertem Verlust von Skelettmuskelmasse und Muskelkraft gekennzeichnet sei. Dies gehe mit einem erhöhten Risiko für negative Folgen, wie etwa physischen Einschränkungen, schlechter Lebensqualität und sogar dem Tod einher.¹
Bereits ab dem 25. Lebensjahr verliert der Mensch jährlich ca. ein Prozent Muskelmasse bei Inaktivität. Ab dem 80. Lebensjahr ist ein Verlust von 40 Prozent der Skelettmuskulatur zu verzeichnen, bei Männern sogar über 50 Prozent. Das sind dramatische Werte, die allen die Dringlichkeit zum Handeln vor Augen führen sollten. Dennoch fristet das Wissen um Sarkopenie noch immer ein Schattendasein. Erst 2016 wurde sie in den internationalen Katalog der Krankheiten mit der Kodierung ICD-10-GM (german modification) aufgenommen. ² Trotzdem wird Sarkopenie häufig als Atrophie fehldiagnostiziert. Das liegt vor allem an den Diagnosemethoden, die entweder kostspielig, aufwendig und genau sind oder aber günstig und ungenau. Es erstaunt, dass in der Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (kurz BZgA) zwar u. a. von Osteoporose und Diabetes geschrieben wird, jedoch die Sarkopenie mit keinem Wort erwähnt wird.
Pathogenese
Die EWGSOP erarbeitete Kriterien, anhand derer das Krankheitsbild Sarkopenie diagnostiziert werden kann.³ Problematisch ist die Verwechslungsgefahr mit der „einfachen“ Atrophie (z. B. bei einer wochenlangen Ruhigstellung eines Beins nach einem Bruch). Folgende Unterschiede wurden identifiziert:
- Sarkopenie geht einher mit einem Kraftverlust,
- einem Kontroll- bzw. Funktionsverlust,
- der Umfang der Muskulatur nimmt ab und wird durch Fett- und Bindegewebe ersetzt und
- im Gegensatz zur Atrophie ist die Sarkopenie derzeit nur bedingt reversibel. Je jünger die Person, desto besser können die Auswirkungen eingedämmt werden. Mit zunehmendem Alter wird dies immer schwieriger.
Zwar sind die Ursachen noch nicht vollständig erforscht, aber einige Faktoren sind bereits bekannt. So scheint ein großer Anteil der Apoptose, dem programmierten Zelltod, zuzukommen, außerdem einem proteolytischen (Eiweiß abbauenden) Vorgang, was nahelegt, dass also auch unsere Genetik eine Rolle spielt. Auf den Verlauf der Degeneration haben wir jedoch durch die Ernährung, unseren Lebensstil und insbesondere durch ausreichende sportliche Belastung großen Einfluss.
Belasten, um belastbar zu bleiben
Das formgebende Stütz- und Bindegewebe unterliegt einer recht einfachen Regel: Zu wenig Belastung führt zum Abbau, ausreichende Belastung erhält und übermäßige Belastung zerstört.⁴ Das bedeutet: Sarkopenie können wir nur durch körperliche Belastung aufhalten. Doch der Bewegungsmangel in der heutigen Zeit und die überall anzutreffende Angst vor einer Überlastung lässt das Krankheitsbild immer weiter in den Fokus der Medizin rücken. In unserer Gesellschaft gilt eine erhöhte Atemfrequenz schon als „Überlastungszeichen“ und soll bestenfalls vermieden werden. So schonen sich die Menschen buchstäblich zu Tode. Denn mit der Sarkopenie gehen weitere Erkrankungen einher. Der Begriff für diese Komorbiditäten ist „Frailty“ (Gebrechlichkeit). Frailty entsteht aus einem wahren Teufelskreis: Er beginnt mit Bewegungsmangel und führt über die Mangelernährung zu abnehmender Muskelkraft, die dann wiederum in einer Reduktion der Bewegung zu noch mehr Inaktivität führt. Doch basierend auf den einfachen histologischen und physiologischen Grundlagen kann dieser Teufelskreis mit Krafttraining einfach und nachhaltig durchbrochen werden. Es trainiert Maximalkraft, Schnellkraft und Koordination, also genau die Bereiche, die für eine Verbesserung der Lebensqualität bei Sarkopenie notwendig sind.
Trainieren wir mit schweren Lasten (über 85 Prozent des 1RM) bedeutet das, dass wir selten hohe Wiederholungszahlen erreichen. Demzufolge befinden wir uns im anaeroben Bereich der Energiebereitstellung und trainieren somit auch aufgrund der Last die muskulären Typ-II-Fasern und die Typ-I-Fasern. ⁵ Die Typ-II-Fasern zucken schnell und sind damit für die schnellen und kraftvollen Bewegungen zuständig. Dieser Fasertyp hat zudem die Eigenschaft, eine deutlichere Querschnittsvergrößerung bei einem Hypertrophietraining zu verzeichnen als der Fasertyp I.⁶ Die Vergrößerung der Muskelmasse ist wichtig, um auf diesem Fundament die Maximalkraft zu verbessern. Muskeln sind Schutz.
Die Sportwissenschaft⁷ grenzt das Ausdauertraining deutlich vom Krafttraining ab, indem sie zur zielführenden Steigerung der Maximalkraft den 1RM-Wert (1 Repetition Maximum) mit mindestens 50 Prozent angibt. Nur ab dieser Last kann ein effektiver Kraftzuwachs erfolgen. In der Prävention und in der Therapie sollten also durchaus Lasten bewältigt werden, die zu einer Anpassung beim Patienten führen. Selbstverständlich muss hier die Trainingssteuerung individuell erfolgen; durch die freien Gewichte sind Erfolge aber in jedem Fall schnell sehr deutlich sichtbar.
Ein regelmäßiges intensives Krafttraining kann den Prozess des krankheitsbedingten Kraft-, Muskelund Funktionsverlustes innerhalb weniger Monate umkehren – selbst nach langen Phasen der Vernachlässigung und vollkommen altersunabhängig.⁸ Auch Menschen über 80 Jahre können Muskeln aufbauen und je nach vorherigem Leistungsstand über 100 Prozent Leistungszuwachs verzeichnen.⁹ Eine alleinige Ernährungsumstellung ohne ein entsprechendes Training hat dabei bisher keinerlei Hinweise auf eine positive Wirkung geliefert.
Therapieansatz: Maximalkrafttraining mit freien Gewichten
Der Vorteil von klassischem Krafttraining mit freien Gewichten gegenüber dem üblichen Maschinentraining liegt an den vielfältigen Effekten. So werden eine Erhöhung der Maximalkraft, eine Muskelquerschnittsvergrößerung, Flexibilität und als Endergebnis auch eine Verbesserung der Körperhaltung erzielt. ¹⁰ So können Maximalkraft, Stabilität und Koordination mit wenigen Wiederholungen gleichzeitig trainiert werden. Maschinentraining ist fast ausschließlich eindimensional und fördert somit kaum die koordinativen, insbesondere neuromuskulären Fähigkeiten. Bei sitzendem oder liegendem Training wird dem Übenden die muskuläre Stabilisation wie im Alltag abgenommen. Für einen funktionell wirksamen Anpassungseffekt müssen aber auch die Propriozeptoren mittrainiert werden; letztendlich also das gesamte sensomotorische System.
Neben den fehlenden koordinativen Anpassungen muss beim Maschinentraining sehr viel Zeit investiert werden, um den Großteil der Skelettmuskulatur zu trainieren. Mit freien Gewichten wird die gesamte Skelettmuskulatur funktionell und auch effektiv angesprochen. Die Anforderung in den Hebeund Beugeübungen – primär Tiefkniebeuge und Kreuzheben – mit Lang- und Kurzhanteln führt zu einer Verbesserung der Koordination und einer optimierten Ansteuerung der Muskelfasern. Durch die Beanspruchung vieler Muskelgruppen gleichzeitig ist das Trainingsziel stets in kürzerer Zeit erreichbar. Zudem ist die Komplexität der Bewegungen dafür verantwortlich, dass sich die inter- und die intramuskuläre Ansteuerung stark verbessern – also die neuronale Ebene. Eben diese Komplexität bedingt auch einen ökonomischen, zeitsparenden Aspekt. So sind zwei bis drei Trainingseinheiten pro Woche bei entsprechenden Belastungsnormativa vollkommen ausreichend.
Ein selten erwähnter, aber nicht unerheblicher Aspekt ist die psychologische Wirkung des Trainings mit freien Gewichten. So finden Menschen schnell ein neues Körpergefühl und Selbstbewusstsein und verlieren Ängste vor Alltagssituationen, da sie im Training hohe Lasten bewegen.¹¹Um die Besonderheit des Trainings mit freien Gewichten und hohen Lasten zu verstehen, muss nur ein Blick auf die Art der zu trainierenden Muskulatur und auf die Muskelfasertypen geworfen werden. Wir sprechen erst ab einer bestimmten Belastung von „Krafttraining“. Im Alter müssen insbesondere die weißen, schnellzuckenden, starken Muskelfasern des Typs II trainiert werden. Diese können jedoch nicht durch aerobes oder leichtes Training angesprochen werden. Zwar eignet sich diese Form als Ergänzung, jedoch muss ein überschwelliger Reiz in Form eines Maximalkrafttrainings den Vorzug haben. Die gängigen ärztlichen Empfehlungen beinhalten leider noch zu oft die aerobe Trainingsform, die jedoch nur die Typ-I-Fasern (auch ST-Fasern genannt) – die ausdauernden, aber langsamen und schwachen – anspricht. Für den Alltag eines älteren Menschen ist Typ II (auch FT-Fasern genannt) jedoch deutlich wichtiger. Einkäufe tragen, Treppen steigen, Stehen und schnelle Reaktionen z. B. bei Stürzen können nur dann gut bewältigt werden, wenn starke FT-Fasern vorhanden sind. Mittlerweile ist bekannt, dass die FT-Fasern signifikant besser auf ein Hypertrophietraining reagieren als die ST-Fasern.¹²
Komplexe Grundübungen für die Praxis
Mit gut ausgebildeten Trainern ist ein Freihanteltraining mit Kurz- und Langhanteln eine der sichersten Trainingsmethoden.¹³ Volkstümlichen Vorurteilen zum Trotz sind schwere Verletzungen sehr selten und betreffen erfahrungsgemäß eher den Hochleistungsbereich, in dem entsprechend hohe Lasten bewegt werden.
Die Überprüfung der Bewegungsabläufe durch ein geschultes Auge ist dabei die Basis. Für die Sportler oder Patienten muss zwar besonders in der Anfangsphase eben diese Überprüfung sehr genau sein, jedoch sollte insbesondere das Anlernen im Vordergrund stehen, damit in der Folge auch ein selbstständiges Training möglich ist. So „erzieht“ man sich die Kunden zu mündigen Athleten, die Freude und Ehrgeiz am Krafttraining erfahren.
Im Kampf gegen die Sarkopenie ist die Tiefkniebeuge die Königin der Kraftübungen. Und auch hier ist ihr Ruf schlechter als die tatsächlichen Fakten, denn entgegen der landläufigen Behauptungen ist eine Beugung bis in die tiefe Hocke keinesfalls schädlich. Im Gegenteil, sie ist sogar förderlich für die Gesundheit des Knies, insbesondere für den Knorpel und die Menisken.¹⁴ Polnische Forscher fanden 2012 heraus, dass sowohl der retropatellare Knorpel als auch die Kreuzbänder bei olympischen Gewichthebern deutlich hypertrophiert und somit widerstandsfähiger sind als bei Nichtsportlern.¹⁵ Dies ist ein wichtiger gesundheitlicher Aspekt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Halb- und Teilkniebeugen (zwischen 0 und 90°) erwiesenermaßen eher zu degenerativen Prozessen führen als volle tiefe Kniebeugen (ab 90°).
tiefe Kniebeugen (ab 90°).
In älteren Studien wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Tiefkniebeuge zu deutlich besseren Anpassungsreaktionen des Beinstreckers führt als Teilkniebeugen. Dies wurde später in mehreren Studien bestätigt und 2014 in einer Metaanalyse zusammengefasst. Der komplexe Bewegungsablauf der Tiefkniebeuge wirkt zudem bei einer ausreichenden Belastung auf fast alle anderen Muskeln im Körper.
Gleiches gilt für das Kreuzheben. Auch hier werden durch den neuronal anspruchsvollen Ablauf zum einen sensomotorische Reize gesetzt und die Maximalkraft geschult, auf der anderen Seite nimmt mit steigenden Lasten auch das Selbstvertrauen der Trainierenden zu.
Kreuzheben und Kniebeugen sind also besonders effizient, doch fördern und stärken nahezu alle Übungen mit freien Gewichten eine stabile Rumpfmuskulatur. Das Bewegen der Lasten verleiht Kraft für Alltagsanforderungen. Krafttraining ist somit eine überaus sichere, motivierende und allumfassend gewinnbringende Therapie gegen Sarkopenie. Und aus meiner jahrzehntelangen Praxiserfahrung im Krafttraining mit Senioren kann ich zudem eine Verbesserung der Lebensqualität der Patienten beobachten, was die physiologischen Trainingseffekte noch erheblich potenziert.
Mark A. Sandmann
Mark A. Sandmann
ist erfahrener Kraftsportler (u. a. Olympisches Gewichtheben), hat viele Jahre als Athletiktrainer im Spitzensport gearbeitet (u. a. Profi-Handball) und betreibt seit 2015 das PT-Studio „Powersports Gym“ in Hannover.
www.powersports-gym.com
Quellen:
1) Cruz-Jentoft et al. 2010.
2) Goisser et al. 2019.
3) Malmstrom et al. 2016.
4) Hüter-Becker und Klein 2011.
5) Koral et al. 2018.
6) Ehlenz et al. 2003; Pyka et al. 1994.
7) Güllich, A., & Schmidtbleicher 1999.
8) Evans 1997; Strass 2000; Hurley und Roth 2000; Newton et al. 2002.
9) Fiatarone et al. 1994.
10) Cureton et al. 1988; Frontera et al. 1988; Barry Beedlel et al. 1991;
Singh et al. 1999; Zimmermann und Rieder 2003.
11) Brown und Harrison 1986.
12) Wirth 2007; Gottlob 2013.
13) Hamill 1994.
14) Hartmann et al. 2012; Grzelak et al. 2014; Hartmann/Wirth 2014.
15) Grzelak et al. 2012; 2014.
Weiterführende Literatur auf Anfrage beim Autor erhältlich.
Foto: and.one – stock.adobe.com ,activestudio – stock.adobe.com,Mark A. Sandmann