Gezieltes Training: Essenziell bei Rückenschmerzen
Dr. Ralph Kürschner, Orthozentrum Hafencity, Fachärztliche Privatklinik für Orthopädie, Unfallchirurgie, Sportmedizin und Chirotherapie, Hamburg
Rückenschmerzen sind in der deutschen Bevölkerung das Beschwerdebild Nummer 1. Stundenlanges Sitzen, Fehlhaltung bei der Computerarbeit, Stress und Bewegungsmangel sind die häufigsten Ursachen. Dr. Ralph Kürschner erklärt, welche Rolle die Faszien bei der Schmerzbehandlung spielen und warum Ärzte und Studios in puncto Prävention Hand in Hand zusammenarbeiten sollten.
body LIFE: Herr Dr. Kürschner, unter welchen Rückenbeschwerden leiden die Deutschen am häufigsten?
Dr. Ralph Kürschner: Mit Abstand am häufigsten leiden die Menschen unter dem sog. lower back pain. Hierunter versteht man einen unspezifischen „Kreuzschmerz“, der auf eine funktionelle Ursache zurückzuführen ist. Es besteht also keine strukturelle Läsion. Funktionelle Ursachen liegen mit 80 Prozent deutlich vor den strukturellen Ursachen mit 20 Prozent. Circa 85 Prozent der Deutschen sind zumindest ein Mal in ihrem Leben von Rückenschmerzen betroffen.
body LIFE: Was sind die Ursachen des unspezifischen Kreuzschmerzes?
Dr. Ralph Kürschner: Die unspezifischen Kreuzschmerzen sind sehr häufig myofaszialen Ursprungs. Meist besteht jedoch ein Mischbild aus Blockierungen, „verklebten“ Faszien, muskulären Verspannungen sowie Verkürzungen und natürlich auch strukturellen Veränderungen. Myofasziale Beschwerden treten vorrangig bei mangelnder Bewegung auf.
body LIFE: Wie werden diese behandelt? Welche Optionen haben Patienten?
Dr. Ralph Kürschner: Bei der Therapie geht es im Wesentlichen darum, myofasziale Verklebungen sowie Verkürzungen zu lösen und zu beheben. Dies gelingt neben der manuellen Therapie vor allem durch Bewegung.
Unter Faszientherapie verstehe ich weniger die Verwendung einer Faszienrolle, sondern vor allem vielseitiges Beweglichkeits- und plyometrisches Training. Darüber hinaus können zum Beispiel die radiale Stoßwelle, Physiotherapie, Osteopathie sowie gezielte Infiltrationen oder Triggerpunktbehandlungen ergänzend durchgeführt werden.
body LIFE: Viele Ärzte setzen bei Rückenproblemen immer noch häufig auf Operationen. Wie stehen Sie dazu? Wann muss operiert werden und wann nicht?
Dr. Ralph Kürschner: Man muss hier natürlich differenzieren. Bei ausgereizter konservativer Therapie, einer klaren strukturellen Läsion, die eindeutig die Beschwerden verursacht, oder sogenannten red flags ist eine operative Therapie in Erwägung zu ziehen oder sogar dringend indiziert. Das darf man nicht ignorieren.
In 90 Prozent der Fälle, die ich sehe, kann man die Beschwerden konservativ auch dauerhaft gut behandeln. Entscheidend ist eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung. Häufig werden MRT-Befunde von Ärzten überinterpretiert. Meines Erachtens ist vor allem die Klinik ausschlaggebend. Bilder, Untersuchung und Beschwerden müssen zusammenpassen. So kann zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall im MRT sichtbar sein, der aber keinerlei Beschwerden verursacht und demnach auch nicht immer behandelt oder gar operiert werden muss.
body LIFE: Warum scheuen sich viele Ärzte immer noch davor, Bewegung zu „verschreiben“?
Dr. Ralph Kürschner: In der Ausbildung zum Orthopäden finden die Themen „Bewegungstherapie“ oder „Faszientherapie“ nahezu keine Beachtung. Es werden im Wesentlichen manifeste Strukturschäden gelehrt. Diese sind früher meist durch Operationen, Ruhigstellungen und Schonung behandelt worden. Es wird sich zu wenig mit der Biomechanik und dem Einfluss von Faszien auseinandergesetzt. Selten gibt es zwischen Arzt und Physiotherapeuten oder Trainern einen guten Austausch. Viele der Ärzte haben demnach keinerlei Erfahrung,was Bewegung bewirken kann. Diese Zeiten sind eigentlich vorbei. Bewegung, richtiges Muskelaufbautraining, Faszientraining, Nervenmobilisation sowie das Trainieren der neuromuskulären Ansteuerung ist häufig erfolgversprechend.
body LIFE: Welche Rolle spielt Sport speziell in Fitnessstudios in der Therapie von Rückenbeschwerden?
Dr. Ralph Kürschner: Eine sehr große! Gerade in Fitnessstudios hat man die Chance, jegliche Art des eben angesprochenen Trainings umzusetzen. Entscheidend ist sicherlich eine gute und professionelle Anleitung durch einen Trainer und/oder Physiotherapeuten vor Ort. Dieser muss sich mit den Beschwerden bzw. dem Körper des Patienten oder Klienten auseinandersetzen. Wie ist die Beweglichkeit, wie ist die Kraft, Koordination, wie sieht der Alltag des Kunden aus?
Allgemein empfehle ich, zunächst eine gute Mobilität des Patienten zu erreichen. Dafür kann man in Fitnessstudios Kurse, Freiflächen und teils auch extra dafür gefertigte Geräte nutzen. Im Anschluss kann Stabilität und Kraft gezielt aufgebaut werden. Optimalerweise erfolgt dann das gezielte Training der neuromuskulären Ansteuerung.
body LIFE: Welche Auswirkungen haben die Lockdowns während der Pandemie und die damit verbundenen Studioschließungen auf den Rücken?
Dr. Ralph Kürschner: Ich erlebe eine Zunahme der unspezifischen Rückenschmerzen. Die Patienten sind unglücklich mit der Situation, sich nicht ausreichend zu bewegen. Ihnen fehlen der Ausgleich und die Anleitung sowie die Vielfalt, die sie im Fitnessstudio finden. Zudem fehlt ihnen vor allem die Routine und regelmäßiges Training Kaum einer rafft sich zu Hause auf bzw. trainiert meist einseitig. Zudem kommt der vermehrte Einfluss von Stress, der sich auf den Bewegungsapparat auswirkt.
body LIFE: Stichwort: Kooperation von Fitnessstudios und Ärzten – wie sehen Sie die aktuelle Situation und was sind die Vorteile?
Dr. Ralph Kürschner: Ich sehe hier großes Potenzial. Eine gute Kooperation zwischen Orthopäden beziehungsweise Sportmedizinern und Fitnessstudios bzw. Trainern kann sehr viel Positives bewirken.
Beide Seiten lernen voneinander und man kann viel theoretisches Wissen oder allgemeine Empfehlungen aus der Arztpraxis in die Realität umsetzen. Der Arzt profitiert auch davon, Verläufe von Beschwerden zu begleiten und zu sehen, welches Training wie gut wirkt.
body LIFE: Was wünschen sich Ärzte von Studiobetreibern?
Dr. Ralph Kürschner: Entscheidend ist aus meiner Sicht gegenseitiger Respekt und Anerkennung. Es sollte eine Kommunikation auf Augenhöhe sein. Der Arzt muss dem Trainer bzw. Studiobetreiber vertrauen können und einigermaßen wissen, dass man sich versteht. Insbesondere wenn es um eine gezielte Belastungssteuerung oder das Erreichen eines Ziels geht, muss man sich aufeinander verlassen können. Wenn das Ziel zum Beispiel eine verbesserte Beweglichkeit ist und der Trainer legt den Schwerpunkt auf Maximalkrafttraining, dann zieht der Arzt möglicherweise falsche Schlüsse aus seiner Therapieidee. Umgekehrt sollte der Arzt offen für Vorschläge und die Meinung des Trainers sein.
body LIFE: Lohnt es sich auch für Unternehmen, mit Fitnessstudios zu kooperieren – Stichwort: Homeoffice und falsche Haltung am Schreibtisch?
Dr. Ralph Kürschner: Absolut. Der Einfluss des stundenlangen Sitzens, von Stress, Bewegungsmangel und Monotonie ist immens und meiner Meinung nach Ursache Nummer 1 beim Thema „Rückenschmerzen“. Alle würden profitieren, denn neben der steigenden Fitness, der Stärkung des Immunsystems durch Sport und der Schmerzreduktion steigt auch die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. Nebenbei wird es dadurch wahrscheinlich einen deutlich geringeren Anteil an Arbeitsunfähigkeit geben.
body LIFE: Brauchen Trainer eine Fortbildung für Rückentraining? Was ist beim Training mit Patienten zu beachten?
Dr. Ralph Kürschner: Meiner Meinung nach ist es immer gut, wenn Trainer gut fortgebildet sind. Es ist entscheidend, dass der Trainer einen Plan verfolgt und genau weiß, was er mit welwelcher Übung bezweckt. Das Training sollte natürlich auf die Bedürfnisse und körperlichen Möglichkeiten des Patienten zugeschnitten sein. Der Sportler sollte während des Trainings im Allgemeinen schmerzfrei sein.
Es gibt meines Erachtens kein Patentrezept für ein Rückentraining, das allen Betroffenen gleich guttut. So braucht der eine möglicherweise mehr Beweglichkeits- oder Faszientraining, der andere mehr Kraft oder Rumpfstabilität, wieder ein anderer hat einen vermeintlich durchtrainierten Körper, ihm fehlt es aber an Tiefenmuskulatur oder Koordination bzw. Ansteuerungsfähigkeit. Letzteres erlebe ich übrigens regelmäßig sogar bei unseren Spitzensportlern und olympischen Goldmedaillengewinnern.
Das sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen sollen, dass es sich lohnt, sich mit all diesen Trainingsformen auseinanderzusetzen und sich darin fortzubilden. Nur so kann man ein qualitativ hochwertiges und individuelles Training gestalten.
Besonders wertvoll finde ich es, wenn Trainer den Sportlern und/oder Patienten Eigenübungen für zu Hause oder den Alltag zeigen. Es macht einen großen Unterschied, wenn man z. B. im Büro öfter mal vom Schreibtisch aufsteht und leichte Beweglichkeitsübungen durchführt. Wenn solche Basics in den Tagesablauf integriert werden, wird viel öfter „trainiert”. Der Patient kann sich im Fitnessstudio dann auf andere Trainingsinhalte konzentrieren, die vielleicht allen Beteiligten auch mehr Spaß machen! Betonen möchte ich, dass man sich bei Beschwerden am Bewegungsapparat vor allem mit der Funktion und Biomechanik auseinandersetzen sollte. Auf diesem Weg erfasst man viel mehr Ursachen für Schmerzen als z. B. durch ein MRT. Die funktionellen Defizite kann man wunderbar durch Training verbessern und damit auch dem Großteil der Sportler/Patienten nicht nur bei Rückenschmerzen helfen.
body LIFE: Wann ist Sport bei Rückenschmerzen kontraindiziert?
Dr. Ralph Kürschner: In seltenen Fällen ist ein bestimmtes Training kontraindiziert. So muss man bei Vorliegen bestimmter struktureller Schäden, wie z. B. Frakturen, schweren Instabilitäten mit drohendem Querschnitt, Tumoren etc., sehr differenziert mit einer Trainingsempfehlung umgehen. Eigentlich gibt es aber kaum eine Indikation, bei der man nicht zumindest ein wenig trainieren kann. Es muss aber gut angeleitet sein
body LIFE: Welche Tests sollten Trainer vor einem Training eines Kunden mit Rückenschmerzen durchführen?
Dr. Ralph Kürschner: Ein guter allgemeiner Check besteht zunächst aus einer ausführlichen Anamnese, Kenntnissen über Beschwerden, Lähmungen, Operationen, Vorerkrankungen, Alltag und sportlichem Background. Wichtig ist zum Beispiel die Frage, ob man einen Klopfschmerz über der Wirbelsäule auslösen kann. Außerdem sollten grobe Kraft und Sensibilität in den Extremitäten getestet werden und man sollte prüfen, ob ein Nervendehnungsschmerz, z. B. wenn man in Rückenlage das gestreckte Bein anhebt, besteht. Darüber hinaus sollten Trainer bzw. Studiobetreiber Wert auf die Testung der Beweglichkeit legen. Zuletzt müssen natürlich auch Kraft und Koordination getestet werden. Im Optimalfall oder bei Unsicherheiten sind die Sportler/Patienten zuvor von einem Arzt untersucht worden.
body LIFE: Was muss sich ändern, damit wir das „Problem Rücken“ den Griff bekommen?
Dr. Ralph Kürschner: Das Thema „Bewegung“ und dessen positiver Effekt auf die Reduktion von Rückenschmerzen muss mehr Aufmerksamkeit erlangen. Gegebenenfalls wäre eine Förderung oder anteilige Beitragsübernahmen durch die Krankenkassen eine Möglichkeit, um mehr Patienten zu motivieren, sich in einem Fitnessclub anzumelden. Dort sollte dann ggf. spezielles Rückentraining angeboten werden, welches vorher in Zusammenarbeit mit Spezialisten aus Training und Medizin erarbeitet wurde. Solche Konzepte bestehen teilweise schon und werden erfolgreich angewandt.
Darüber hinaus sollte der Einfluss von Stress auf Beschwerden am Bewegungsapparat nicht außer Acht gelassen werden. Auch hier gibt es gute und sinnvolle Möglichkeiten durch Sport, Meditation, Yoga etc., guten Stressabbau in Fitnessstudios zu finden und damit Prävention für Rückenschmerzen zu betreiben.
body LIFE: Vielen Dank für das Interview!
Foto: Dr. Ralph Kürschner