Bandscheibenvorfall
Wie kann gezieltes Training schützen und was kann man tun, wenn es schon passiert ist?
Die Zahl der Menschen, die pro Jahr in Deutschland einen Bandscheibenvorfall erleiden, geht in die Hunderttausende. Die Betroffenen haben große Schmerzen und landen nicht selten auf dem Operationstisch. Dabei sind sich die Experten heute einig, dass eine Operation in nur rund drei Prozent der Fälle tatsächlich medizinisch sinnvoll und angebracht ist. In den allermeisten Fällen ist eine konservative Behandlung nicht nur möglich, sondern auch die langfristig erfolgversprechende Alternative. Gezieltes Training ist dabei ein zentrales Element – das gilt sowohl für die Prävention als auch für die Therapie nach einem Bandscheibenvorfall.
Der menschliche Körperbau ist dafür gemacht, große Strecken zu gehen. Der Jäger und Sammler der Frühzeit hat am Tag einen Halbmarathon zurückgelegt, um an sein Essen zu kommen. In der heutigen Zeit haben wir es jedoch nicht mehr mit dem laufenden, sondern mit dem sitzenden Menschen zu tun. Manche von uns verbringen bis zu 15 Stunden am Tag damit, zu sitzen und auf diverse Bildschirme zu starren. Drastisch ausgedrückt, ist das eine Versündigung an unserem Körper, denn er ist nach wie vor für das Laufen ausgelegt. Hierin liegt eines der Grundprobleme für eine Vielzahl typischer Alltagsbeschwerden – vom Fersensporn über Achillessehnenprobleme bis hin zu Schmerzen in Knien, Hüfte, Rücken, Schultern oder Nacken. Ein Großteil davon lässt sich auf übermäßiges Sitzen zurückführen. Warum ist das so? Durch die sitzende, nach vorn gekrümmte Haltung verlieren wichtige muskuläre Strukturen ihre Dehnbarkeit. Umgangssprachlich sagen wir auch, die Muskeln verkürzen sich. Auf die Dauer löst das an den unterschiedlichsten Stellen Beschwerden aus – auch den Bandscheibenvorfall.
Die Wirbelsäule im festen Ringergriff
Eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Rückenproblemen spielt der Hüftbeuger, also der Muskel von der Wirbelsäule zum Oberschenkelknochen. Im Sitzen ist er quasi arbeitslos und verkürzt sich. Nun reicht der Hüftbeuger nicht nur bis zur Wirbelsäule, sondern er umschließt vielmehr den gesamten Bereich der Lendenwirbelsäule – wie ein Ringer, der mit seinen Armen die Wirbelsäule fest umklammert. Wenn der Hüftbeuger verkürzt ist und man steht auf, reißt dieser Ringer mit brachialer Gewalt an der Lendenwirbelsäule. Man kann sich den enormen Stress ausmalen, den das für den Rücken bedeutet – immerhin ist der Hüftbeuger der zweitstärkste Muskel in unserem Körper.
Ein weiterer Auslöser für Beschwerden im Rücken rührt meist von der Bauchmuskulatur her. Sie reicht vom Rippenbogen hinunter zum Schambein. Sitzen wir, hat dieser Muskel nur rund ein Drittel seiner Ausdehnung im Vergleich zur Länge bei einer aufrechten, stehenden oder gehenden Haltung. Über die Jahre hinweg verstärkt sich dieses Phänomen und der sich verkürzende Bauchmuskel zieht einen immer weiter nach vorn. Der Effekt ist der gleiche, wie wenn man einen unsichtbaren Zementsack vor sich hertragen würde, der mit der Zeit immer schwerer wird.
Bandscheiben: mehr als Stoßdämpfer
Es ist im Übrigen ein Ammenmärchen, dass es die primäre Aufgabe der Bandscheibe sei, Stöße aufzunehmen. Die Bandscheibe ist kein Stoßdämpfer, sondern dient in erster Linie der Beweglichkeit. Jede der 23 Bandscheiben unserer Wirbelsäule besteht aus einem Knorpelring, in dessen Mitte sich ein weicher Gallertkern befindet. Das ist eine Art Kugel aus Flüssigkeit, über die wir uns bewegen können. Die vielseitige Beweglichkeit der Wirbelsäule nach rechts, links, vor, zurück, rotierend und in komplexen Kombinationen – das alles ermöglicht uns die geniale Konstruktionsweise der Bandscheiben. So kommt es zum Big-Mac-Effekt. Im Sitzen werden die einzelnen Wirbelkörper vorn zusammengepresst und drücken auf den Faserringknorpel, sodass der Gallertkern nach hinten ausweichen möchte. Das ist wie bei einem Big Mac: Man beißt auf der einen Seite hinein und auf der anderen Seite schießt die Mayo hinaus. Bei einem Bandscheibenvorfall kommt es zum Riss des Faserringknorpels – das Gewebe des Gallertkerns tritt aus. Drückt das Gewebe auf die Nervenwurzeln im Rückenmark, entstehen starke Schmerzen, bisweilen auch Gefühlsstörungen wie Kribbeln oder sogar Lähmungen.
Im Gegensatz zum Biss in den Big Mac kommt ein Bandscheibenvorfall jedoch nicht aus heiterem Himmel, sondern bahnt sich über Jahre hinweg an. Klassischerweise ist das einmalige, kurze Heben einer Last – meist verbunden mit einer Rotationsbewegung – nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Fehler beginnen viel früher – unser heutiger Alltag bereitet den Boden dafür: Homeoffice, geschlossene Fitnessstudios, eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten und weniger körperliche Bewegung spielen diesem Prozess im Augenblick noch zusätzlich in die Karten. Hinzu kommt, dass ein Mangel an Bewegung auch dazu führt, dass die Knorpelringe in der Wirbelsäule mit der Zeit immer mürber werden. Wir wissen heute, dass Knorpelgewebe möglichst vielseitige Bewegungen in alle Richtungen benötigt, um ernährt zu werden und funktionstüchtig zu bleiben.
Aufrichten: Prävention und Therapie
Wie sieht nun die Lösung für Bandscheibenprobleme aus? Das Schlüsselwort heißt: aufrichten! Das gilt sowohl für die Prävention als auch für die Therapie, wenn es zu einem Vorfall gekommen ist. Für eine Aufrichtung des Körpers gilt es vor allem, die verkürzte Hüftbeuger- und Bauchmuskulatur zu entspannen und wieder auf Länge zu trainieren. Eine Basisübung hierfür ist es, die Wirbelsäule maximal nach hinten durchzubiegen, das Becken nach vorn zu bewegen und gleichzeitig das Bein nach hinten zu bringen. Dadurch werden sowohl die Bauchmuskeln als auch die Hüftbeuger gedehnt. Der Oberkörper wird nicht mehr so stark nach vorn gezogen. Auch der vorhin schon erwähnte „Ringergriff“ kann sich wieder öffnen und es kommt zu einer spürbaren Entlastung der Wirbelsäule. Regelmäßig ausgeführt, ist diese einfache Übung ein idealer Ausgleich für alle Menschen, die im Sitzen arbeiten.
Auch die Bauchmuskeln spielen mit
Meist konzentriert sich das Training bei Rückenbeschwerden auf die aufrichtende Muskulatur am Rücken. Die Rolle einer entspannten Bauchmuskulatur wird leider oft vernachlässigt – dabei ist diese viel wichtiger. Die Erklärung liefern Physik und Mechanik, denn der Bauchmuskel sitzt im wahrsten Sinne des Wortes am längeren Hebel. Da er vorn am Rumpf sitzt, nutzt er die komplette Länge der Rippen als Kraftarm. Der Rückenstrecker hat als Kraftarm nur die kurzen Dornfortsätze auf der Rückseite der Wirbelsäule. Das bedeutet: Schon geringe krümmende Kräfte auf der Vorderseite des Körpers erfordern eine sehr viele höhere Kraftanstrengung auf der Rückseite, um uns in einer aufrechten Position zu halten. Bildlich gesprochen heißt das: Mit einem starken Rücken kann man den schon erwähnten unsichtbaren Zementsack vorn zwar etwas länger tragen, aber irgendwann wird der auch zu schwer. Nur wer seine Bauchmuskeln auf Länge bringt, legt den Zementsack ab.
Regeneration mit Training
Nach einem Bandscheibenvorfall führt kein Training der Welt dazu, dass ein ausgetretener Gallertkern auf wundersame Weise wieder zurück in die richtige Position wandert. Aber mit den richtigen Übungen kann man den Körper dabei unterstützen, die Verletzung selbst wieder zu heilen. Schritt für Schritt fängt der Knorpel an, sich zu regenerieren, zu resorbieren, zu vernarben und sich schließlich auch wieder zurückzuziehen. Bei Knorpelgewebe geht das natürlich nicht von heute auf morgen. Umso mehr kommt es darauf an, möglichst rasch und gezielt die wesentlichen Ursachen des Bandscheibenvorfalls zu eliminieren – also die Verkürzungen von Hüftbeuger und Bauchmuskeln. So wird der Körper entlastet und hat die Chance zur Regeneration.
Beim Training nach einem Bandscheibenvorfall ist es wichtig, dass der Betroffene anhand der eigenen Schmerzgrenzen selbst die Intensität der Übungen bestimmt. Es bringt nichts, mit roher Gewalt in die Schmerzen hinein zu arbeiten nach dem Motto „viel hilft viel“. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es bei Bandscheibenvorfällen immer ein „Tal der Schmerzen“ gibt, an dem kein Weg vorbeiführt. Wie lange das dauert, ist individuell sehr unterschiedlich, aber wer in dieser Phase am Ball bleibt, schafft es auch ohne Operation, zu spürbaren Verbesserungen zu kommen. Eine clevere medikamentöse Schmerztherapie – ärztlich begleitet – kann dabei in der akuten Phase durchaus eine sinnvolle Unterstützung darstellen. Das Training sollte aber die Basis sein, denn ohne an der Beweglichkeit zu arbeiten, werden auch die besten Schmerzmittel langfristig nicht helfen können.
Training auch nach einer Operation
In den wenigen Fällen, in denen eine Operation der Bandscheibe wirklich unausweichlich ist, kann ein individuell angepasstes postoperatives Training ebenfalls äußerst hilfreich sein. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass bei einer Operation immer nur kurzfristig der Schmerzauslöser beseitigt wird – also der ausgetretene Gallertkern, der auf einen Nerv drückt. Sie ändert aber nichts an der Ursache. Wenn ein Patient nach dem chirurgischen Eingriff weitermacht wie zuvor, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es früher oder später in einem anderen Segment der Wirbelsäule zum nächsten Vorfall kommt. Das Problem wird chronisch.
Generell plädiere ich beim Training im Zusammenhang mit Rückenbeschwerden immer für einen Mix: Ausdauertraining für ein gesundes Herz-Kreislauf- System als Basis, gezieltes Krafttraining mit Augenmerk auf die aufrichtende Muskulatur und Beweglichkeitsübungen zur Aufarbeitung von Verkürzungen im Bereich von Hüftbeuger und Bauchmuskulatur. Normalerweise lautet meine Empfehlung, dies in einem Fitnessstudio oder einer Therapieeinrichtung unter professioneller Anleitung und mit einem individuell erstellten Trainingsplan zu machen.
Wolf Harwath
Der Unternehmer und Physiotherapeut Wolf Harwath gehört zu den führenden Trainingsexperten im deutschsprachigen Raum. Stets fundiert und für Laien verständlich vermittelt er Hintergründe und praktische Tipps auf seinem Youtube-Portal www.wolfontour.com
Abbildung/Fotos: C. Schüßler – stock.adobe.com; Wolf Harwath