Immunbooster Medical Fitness
Training als „Impfung“ für unser Immunsystem
Wenn der Atem in der Luft weiße Wolken malt, ist das ein erstes Warnsignal für die bevorstehenden Erkältungswellen, die jedes Jahr im Herbst und Winter durchs Land rollen. Regelmäßiges Händewaschen, eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Schlaf sollen unsere Abwehrkräfte auf Trab halten. Aber wie verändert sich eigentlich unser Immunsystem, wenn wir regelmäßig in die Pedale treten, Gewichte stemmen oder unsere Laufrunden drehen?
Rund zwei Milliarden Menschen – mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung – bewegen sich zu wenig. In Deutschland ist fast jeder Zweite inaktiv und erreicht nicht die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 150 Minuten pro Woche. Die zahlreichen Bequemlichkeiten, die Einzug in unseren Lifestyle gehalten haben, wie Lieferdienste, Fahrstühle, E-Scooter und Co., haben allerdings ihren immunologischen Preis, der in Pandemiezeiten stark gestiegen ist. Während die medizinische Wissenschaft Vorerkrankungen wie Adipositas, Diabetes Typ 2 und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schnell als Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von Covid-19 identifizierte, zählte Bewegungsmangel erst einmal nicht dazu. Jetzt konnte eine Studie mit Mitgliedern einer Krankenversicherung jedoch die immunprotektive Wirkung von Sport im Allgemeinen und bei einer SARS-CoV-2-Infektion im Speziellen nachweisen. Zwischen März 2018 und März 2020 ermittelte der US-amerikanische Versicherer Kaiser Permanente bei jedem Arztbesuch das „Exercise Vital Sign“. Jeder Patient wurde gefragt, wie oft und wie lange er in den letzten zwei Monaten sportlich aktiv war. Als „durchgängig aktiv“ zählten Mitglieder, die die WHO-Empfehlung von 150 Minuten pro Woche Bewegung umsetzten. Als „durchgängig inaktiv“ wurden Mitglieder eingestuft, die sich weniger als 10 Minuten pro Woche sportlich betätigten. Wer zwischen den Werten lag, galt als „teils aktiv“.
Pandemie als Klarheitstreiber
Das Forschungsteam um Sportmediziner Robert Sallis analysierte die Bewegungswerte von 48 440 Versicherten, die sich mit SARS-Cov-2 infiziert hatten, und setzte die Daten in Korrelation zum Krankheitsverlauf. Ergebnis: Von den fast 7 000 Versicherten, die „durchgängig inaktiv“ waren, mussten 10,5 Prozent in einem Krankenhaus, davon 2,8 Prozent auf der Intensivstation, behandelt werden. Unter den 3 118 Versicherten, die „durchgängig aktiv“ waren, war das Risiko für einen Krankenhausaufenthalt um das Dreifache reduziert. Auch der Anteil tödlicher Krankheitsverläufe war bei „inaktiven“ Patienten mit 2,4 Prozent versus 0,4 Prozent bei „durchgängig aktiven“ um das Sechsfache höher. Die „teils aktiven“ Patienten lagen in allen Auswertungen dazwischen.
Der Zusammenhang scheint somit klar, widerspricht jedoch einem etablierten Paradigma der Sportimmunologie: Führen sportliche Belastungen doch nicht zu der in den Lehrbüchern beschriebenen immunologischen Lücke, die bis zu 72 Stunden das Infektionsrisiko von Sportlern erhöht?
Open-Window-Effekt: Einfallstor für Krankheitserreger
Im Breiten- und Leistungssport hält sich die hartnäckige Behauptung, dass lang andauernde und intensive Trainingsbelastungen die Funktion des Immunsystems vorübergehend beeinträchtigen und damit die Infektanfälligkeit erhöhen. In der Literatur wird dieser Effekt als „Open-Window-Effekt“ bezeichnet. In den 1980er-Jahren postuliert, findet der „Open-Window-Effekt“ auch heute noch viel Zuspruch. Aktuell wird dieses Paradigma allerdings infrage gestellt, da die Studien der Vergangenheit auf Mängeln in der Durchführung und Fehlinterpretationen in der Kinetik von Immunzellen beruhen. Die Tatsache, dass die im Blut zirkulierende Menge wichtiger Immunzellen, wie natürliche Killerzellen, T-Helferzellen und neutrophile Granulozyten, während einer akuten Belastung zunächst ansteigt und anschließend unter den Ausgangswert fällt, führte zur Fehldeutung einer bewegungsinduzierten Immunsuppression, also einer Hemmung der Immunkompetenz. Immer mehr Studien konnten inzwischen nachweisen, dass die Konzentration der Immunzellen nach Belastung im Blut zwar absinkt, aber die Leukozyten keineswegs absterben. Im Gegenteil: Sie verlassen nur die Blutgefäße und migrieren in umliegende Gewebe, um ihrer überwachenden und reparierenden Funktion nachzukommen.
Die Sportimmunologie konnte zudem belegen, dass aktivierte Immunzellen überwiegend in Gewebe migrieren, die eine Grenze zur Außenwelt darstellen, wie Lunge, Haut und Darm. Zudem sorgt diese bewegungsinduzierte Umverteilung der Immunzellen dafür, dass die zytotoxischen natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) in z. B. Tumorgewebe einwandern und dort effektiv gegen entartete Zellenvorgehen können. Eine Forschungsarbeit des Instituts für molekulare Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule wies darüber hinaus nach, dass akute Belastungen die zytotoxische Funktion der NK-Zellen intensitätsabhängig erhöhen.
Sport gegen Alterung des Immunsystems
Statistisch gesehen, nimmt das Aktivitätslevel in der westlichen Welt mit zunehmendem Alter deutlich ab, was mit vielen altersbedingten Erkrankungen verbunden ist, z. B. Sarkopenie oder Osteoporose. Diese schleichende Degeneration, die nur teilweise der natürlichen Alterung zugeschrieben werden kann, basiert u. a. auf Bewegungsmangel. Körperliche Inaktivität begünstigt Multimorbidität, d. h. das gleichzeitige Auftreten vielfältiger Probleme des Bewegungsapparats und anderer Organsysteme.
Auch unser Immunsystem altert. Die abnehmende Fähigkeit des Immunsystems im Seniorenalter, adäquat auf Krankheitserreger wie Viren, Bakterien, Parasiten, Pilze etc. zu reagieren sowie Antikörper nach einer Impfung zu entwickeln, wird im Fachjargon als Immunoseneszenz bezeichnet. Herabgesetzt sind insbesondere die Anzahl und die Funktion der T-Lymphozyten. Eine aktuelle Tierstudie konnte zeigen, dass die Immunoseneszenz (erhöhtes Verhältnis von alten zu jungen T-Zellen in Thymus und Milz) durch eine Steigerung der täglichen Bewegungsaktivität über mehrere Wochen korrigiert wird und Bewegung darüber hinaus oxidativen Stress reduziert.
Immunfitness – eine Frage der Intensität?
Bis dato gingen die Empfehlungen führender Fachgesellschaften stets in Richtung moderater Ausdauertrainingsprogramme < 50 Prozent der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität. Es häufen sich allerdings aktuelle Studienergebnisse, die den Faktor „Intensität“ hervorheben. Hochintensives Intervalltraining wird etwa von Autoimmunpatienten nicht nur besser vertragen als gedacht, sondern es scheint das Immunsystem auch positiver zu beeinflussen als Ausdauertraining. So konnte in Studien mit Multiple-Sklerose-Patienten gezeigt werden, dass HIIT im Vergleich zu moderatem Training ein spezielles Protein (MMP-2) im Blutserum senkt, das den Übertritt reparierender Immunzellen aus dem Blut ins zentrale Nervensystem erleichtert. Bei Mäusen konnte dieser neuroprotektive Effekt von hochintensivem Training bestätigt werden: Niedrigere Entzündungswerte im zentralen Nervensystem, weniger klinische Symptome und ein verzögerter Krankheitsbeginn waren die Folgen.
Dr. Jens Freese & Pascal Bujor
Dr. Jens Freese & Pascal Bujor
Dr. Jens Freese ist Master of Science Clinical Neuroimmunology, Diplom-Sportwissenschaftler sowie Leiter der Dr. FREESE Akademie und des Dr. FREESE Instituts.
www.dr-freese.com
Pascal Bujor
ist Sportwissenschaftler (B. Sc.) und Mitarbeiter im Dr. FREESE Institut für Sport- und Ernährungsimmunologie.
Literatur:
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