Aktivität der Schonung vorziehen
Prof. Dr. med. habil. Michael Linnebank, Chefarzt der Klinik für Neurologie, Rehabilitation und Neurologische Komplexbehandlung, St. Barbara-Hospital Gladbeck
Das noch junge Krankheitsbild Long-Covid ist medizinisch schwer einzuordnen, die Diagnose bisher nicht eindeutig. Der Neurologe Prof. Dr. Michael Linnebank klärt im Interview über Symptome, Genesungschancen und Behandlungsoptionen auf und sensibilisiert dafür, dass eine übermäßige Schonung den Betroffenen eher schadet als hilft.
bodyLIFE: Was sind die generellen Auswirkungen von Covid auf den Körper?
Prof. Dr. Michael Linnebank: Neben Beeinträchtigungen der Lunge kann insbesondere auch die Innenhaut von Blutgefäßen beschädigt werden, sodass neben Lungenentzündungen auch Durchblutungsstörungen entstehen können. Dadurch steigt das Risiko einer Minderdurchblutung des Gehirns mit entsprechenden Schäden, wie etwa ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Auch weitreichende Organschäden sind möglich
body LIFE: Kann sich eine Covid-19-Infektion langfristig auf ZNS und Gehirn auswirken?
Prof. Dr. Michael Linnebank: Grundsätzlich können Beschwerden aufgrund von Organschäden entstehen. Wenn Hirn oder Lunge beschädigt ist und das Herz-Kreislauf-System die Sauerstoffversorgung und Leistungsfähigkeit nur noch in reduzierter Form sicherstellen kann, kann dies schwerwiegende Folgen auf den Körper und das Nervensystem haben. Dies würde man als Post-Covid-Syndrom bezeichnen. Besonders in den Fokus des Interesses gerückt ist mittlerweile das Long-Covid-Syndrom, was medizinisch noch schwer einzuordnen ist. Dieses Phänomen tritt nach einer Covid- Infektion unabhängig von Organschäden auf; hier bleibt eine längerfristige neurologische, neuropsychologische oder psychopathologische Beeinträchtigung bestehen. Organisch ist dieses Phänomen aktuell noch nicht richtig erklärbar. Im Vordergrund steht eine übermäßige, längerfristige Erschöpfbarkeit – ein Fatigue- Syndrom –, sodass bei den Betroffenen nach einer Covid-Infektion eine verminderte körperliche Belastbarkeit zu bestehen scheint.
body LIFE: Gibt es eine offizielle Diagnostik für Long- oder Post-Covid?
Prof. Dr. Michael Linnebank: Das ist das Schwierige. Bei Long-Covid geht es hauptsächlich um das Fatigue-Syndrom, das jedoch nicht objektiv messbar ist. Für die nähere Einordnung ist man sehr stark auf die Empfindungen und die Angaben der Betroffenen angewiesen. Häufig kommen hierbei Fragebögen und Interviews zum Einsatz, mit denen man eine Fatigue- Symptomatik erarbeitet. Auch spezielle neurologische Testbatterien, die validiert sind, können angewandt werden. Allerdings können sie Fatigue nicht sicher von anderen Ursachen und verminderter Leistungsfähigkeit unterscheiden. Es ist kaum möglich, mit Sicherheit zu sagen, dass eine coronabedingte Fatigue vorliegt und diese von Depression, sonstigen neuropsychologischen oder psychiatrischen Auffälligkeiten abzugrenzen.
body LIFE: Was ist mittlerweile über Long-Covid bekannt? Gibt es neue Studien und Forschungsergebnisse bzgl. der Symptome, der Dauer und möglicher Behandlungsoptionen?
Prof. Dr. Michael Linnebank: Man weiß von anderen Erkrankungen wie Lungenentzündung oder Grippe, dass Patienten zum Zeitpunkt der Erkrankung erschöpft sind; das ist ein Warnsignal des Körpers und ein Mechanismus des Gesundwerdens. Durch die Stoffe, die von der körpereigenen Abwehr während der Virusinfektion ausgeschüttet werden, wird dem Körper signalisiert, dass er müde und erschöpft ist und sich ausruhen soll. Das ist eine normale Reaktion, die zur Genesung beiträgt; sie kann einige Tage über die Infektion hinaus andauern, bis man sich entsprechend erholt hat und sich das Immunsystem wieder mehr und mehr dem Normalbetrieb annähert. Bei einer Coronainfektion scheint dieser Zustand bei manchen Betroffenen verlängert zu sein. Warum das so ist, ob es dazu wirklich ein Korrelat im Immunsystem gibt oder ob psychologische Ursachen zugrunde liegen, dazu gibt es bisher noch keine ausreichend gesicherten Informationen.
body LIFE: Was lässt sich aktuell hinsichtlich der Dauer und Behandlungsmethoden des Post-Covid-Sydroms feststellen?
Prof. Dr. Michael Linnebank: Post-Covid gibt es noch nicht lange; bisherige Erfahrungswerte sind zeitlich begrenzt. Die meisten Experten oder neurologischen Zentren, die sich mit dieser Frage beschäftigen, gehen davon aus, dass es sich nicht um einen Dauerzustand handelt, sondern dass die Symptome bei normalen Verläufen innerhalb von wenigen Wochen, bei verlängerten Verläufen eventuell erst nach Monaten wieder verschwinden. Unsere Klinik, wie auch viele andere Zentren, untersucht die Patienten gründlich auf organischer und immunologischer Ebene. Es gibt natürlich Patienten, die einen erkennbaren Organschaden erlitten haben; bei ihnen ist es fraglich, ob ein komplett gesunder Zustand wieder erreichbar ist. Nach jetzigem Stand ist bei Menschen ohne organische Schäden eine vollständige Genesung in absehbarer Zeit möglich, es sei denn, andere Gründe sprechen dagegen, z. B. eine vorbestehende oder neu entstandene negative Verstimmung oder ähnliche Zustände, was aufgrund der schwierigen Umstände kein Wunder ist. Wenn Patienten schon vor der Covid-Infektion schwer krank waren und dann eine schwierige Zeit auf der Intensivstation oder eine Vereinsamung durch Erkrankung und Quarantäne erlebt haben, ist eine psychische Belastung nicht verwunderlich. Diese Belastung kann Beschwerden verursachen, die leicht mit Post-Covid verwechselt werden können.
body LIFE: Was raten Sie Sportlern nach einer Covid-19-Infektion und was sollten Trainer beachten?
Prof. Dr. Michael Linnebank: Zuerst einmal möchte ich die Meinung widerlegen, Long-Covid sei nur durch absolute Schonung zu überstehen. Dafür gibt es keinerlei Evidenz oder wissenschaftliche Basis. Es gibt Einzelberichte, dass Patienten nach einer Coronaerkrankung physisch nicht belastbar sind und nach geringer körperlicher Aktivität eine verstärkte Symptomatik verspüren. Organisch gibt es dafür keine Erklärung. Von neurologischer Seite gehen wir davon aus, dass Patienten, bei denen die körperlichen Untersuchungen unauffällig sind, nicht von einer übermäßigen Schonung profitieren. Wir empfehlen, ein gut angeleitetes Training zu absolvieren, wobei gilt, dass man sich nicht überfordern sollte. Nach einem krankheitsbedingten Trainingsdefizit ist man anfangs natürlich noch nicht so belastbar wie vorher und sollte vorsichtig mit einem Belastungsprogramm starten, das individuell anzupassen ist. Zu viel Schonung kann den Zustand der Dekonditionierung bzw. des Trainingsmangels und letztlich auch die verminderte Leistungsfähigkeit durchaus noch verschlechtern Ich würde dringend davon abraten, einem Long-Covid-Patienten direkt Schonung zu verordnen; Aktivität ist der bessere Weg.
Es gibt mittlerweile einzelne Kliniken oder Zentren, die sich auf die körperliche Versorgung von Long-Covid-Patienten konzentrieren; insgesamt ist die Versorgungslage jedoch noch recht dünn und die einzelnen Programme unterscheiden sich sehr voneinander. Es gibt noch keine eindeutige Beweiskraft als Grundlage. Viele Betroffene sind sehr vorsichtig, was die Leistungsbereitschaft angeht, und bringen die Erwartungshaltung mit, dass sie sich schonen müssen und sich nicht überfordern dürfen. Trainer sollten Patienten auf jeden Fall vorsichtig wieder an Belastungsgrenzen heranführen und das Programm langsam steigern. Sollten Organschäden vorliegen, muss der behandelnde Arzt mit einbezogen werden.
Foto: St. Augustinus Gelsenkirchen GmbH