Krafttraining und Beweglichkeit
Ein Widerspruch?
Die Meinung, Krafttraining mache unbeweglich und nur Dehnen führe zu einer besseren Beweglichkeit, hält sich bei vielen Trainern hartnäckig. Patrick Meinart zeigt, wie Übungen mit Gewichten sogar gezielt für ein Beweglichkeitstraining eingesetzt werden können.
Sofern ein Krafttraining bestimmten Regeln folgt und entsprechend der Zielsetzung in einer maximalen Bewegungsamplitude (ROM) ausgeführt wird, trägt es sehr wohl zur Beweglichkeit bei. Interessanterweise sind die meisten Kritiker des Ansatzes, Krafttraining für eine bessere Beweglichkeit zu nutzen, Sportler, die selbst weder kräftig noch beweglich sind. Dabei schränkt der Aufbau von Muskulatur erst ab einem gewissen Punkt die Beweglichkeit ein. Wer aufgrund des Umfangs seines Bizeps Probleme beim Anschnallen im Auto hat, kann von einer massebedingten Bewegungseinschränkung sprechen. Bis es zu diesem Ausmaß an Weichteilhemmung kommt, muss aber sehr viel Zeit beim Training mit Gewichten verbracht werden.
Die Freiheitsgrade der Gelenke berücksichtigen
Grundsätzlich schränkt der Aufbau von Muskulatur die Beweglichkeit nicht ein. Solche Probleme ergeben sich meist nur dann, wenn nicht zielspezifisch trainiert wird. Wird der Fokus beim Krafttraining nur auf die konzentrische Phase gelegt oder nur auf bestimmte eindimensionale Bewegungen, die die Freiheitsgrade der Gelenke nicht berücksichtigen, kann es passieren, dass sich die Beweglichkeit des Athleten im Laufe der Zeit einschränkt. Dies resultiert aber nicht aus dem Krafttraining, sondern ausschließlich aus der Tatsache, dass nicht beweglichkeitsorientiert trainiert wurde.
Bewegungsamplitude als wichtigste Variable
Die Bewegungsamplitude ist die wichtigste Trainingsvariable, die individuell auf die entsprechende Übung und Person abgestimmt werden muss. Die adäquate ROM macht den Unterschied zwischen einer konstanten Muskelspannung während der Übung und einer ROM, die einen potenziellen Schaden zufügt. Eine konstante Muskelspannung liegt nicht automatisch während einer maximalen ROM vor, da die Spannung bzw. Belastung während einer Übung immer u.a. von dem Widerstandsprofil einer Übung und dem Training gegen die Erdanziehung abhängig ist. So ist z.B. ein stehender Bizeps Curl bei maximaler Ellenbogenflexion im obersten Punkt der Flexion sinnbefreit, da hier die muskuläre Spannung gegen null geht. Anders sieht das z.B. bei einem Konzentrationscurl aus, bei dem die Spannung in der maximalen Ellenbogenflexion am größten ist. Bei der Bestimmung der jeweiligen Bewegungsamplitude muss also zu Beginn bestimmt werden, welche ROM sinnvoll ist. Jede Kraftübung in der maximalen ROM auszuführen, ist nutzlos, wenn bestimmte Gelenkpositionen ohne Anstrengung bzw. ohne muskuläre Spannung erreicht werden können.
Anpassung auf muskulärer und faszialer Ebene
Kombiniert man verschiedene Kraftübungen innerhalb eines oder mehrerer Trainingszyklen, schafft die Summe der Bewegungsamplituden ein komplexes Beweglichkeitstraining, was gleichzeitig zu einer strukturellen Anpassung des Gewebes führt. Diese strukturelle Anpassung findet nicht nur auf muskulärer, sondern auch auf faszialer Ebene statt, zu der z.B. Sehnen, Bänder und Gelenkkapseln gehören. Dennoch wird die Anpassung des passiven Bewegungsapparates primär durch Last, also mechanische Beanspruchung hervorgerufen und weniger durch passive Maßnahmen, wie z.B. Foam Rolling. Daher bedeutet ein Krafttraining in einer effektiven ROM immer auch eine strukturelle Anpassung des faszialen Systems, was wiederum der Beweglichkeit im Allgemeinen dient.
ROM: Muskeln versus Bewegung
Zunächst muss zwischen „Muskeln“ und „Bewegung“ unterschieden werden. Die ROM eines Muskels bezieht sich immer auf die „Time under Tension“, also inwieweit und ob eine ausreichende Muskelspannung vorliegt. Die ROM einer Bewegung bezieht sich immer auf die Amplitude der vollständigen Bewegung, unabhängig davon, ob die volle ROM auch mit einer durchgehend hohen Muskelspannung gleichzusetzen ist. Zum Beispiel wird die Kniebeuge meist bis zur maximalen Hockposition ausgeführt, unabhängig davon, ob die tiefe Position mit einer ausreichenden Muskelspannung kontrolliert werden kann. Daher ist die muskuläre ROM immer kleiner als die ROM der Bewegung. In der Aufwärtsbewegung der Kniebeuge reduziert sich bei zunehmender Gelenkstreckung wieder die Spannung, bis sie bei maximaler Extension gegen null geht. Eine sinnvolle Anpassung kann nur dann erfolgen, wenn die ROM einer Gelenkbewegung durch Kraftübungen vervollständigt werden kann. Daher macht es immer Sinn, Übungen zu streuen bzw. verschiedene Übungen mit unterschiedlichen Bewegungsabläufen zu kombinieren. Das Training eines Muskels aus verschiedenen Winkeln und in unterschiedlichen Gelenkbereichen ist nicht nur sinnvoll in Bezug auf eine Maximierung der Hypertrophie, sondern auch in Bezug auf eine Verbesserung der Koordination und der Beweglichkeit in eben diesen Bewegungsebenen.
An der spezifischen ROM arbeiten
Betrachten wir z.B. die Beweglichkeit der Hüfte und der Knie, stellt die Kniebeuge eine der besten Übungen dar, um diese zu trainieren. Ist jedoch die individuelle Beweglichkeit der Übung z.B. durch eine mangelnde Sprunggelenksbeweglichkeit limitiert, kann innerhalb der Kniebeuge nicht das volle Bewegungsausmaß trainiert werden. Zumal die Kniebeuge keine Hyperextension der Hüfte vorsieht, die ebenfalls zu einer ausreichenden Hüftbeweglichkeit gehört. Um also die spezifische ROM innerhalb der Kniebeuge zu erhöhen, kann ich z.B. die Fersen erhöhen, was unmittelbar die Flexion in den Knien und in der Hüfte erhöht, was zu mehr angepasster Beweglichkeit führt. Um jedoch die Hüftextension zu trainieren, kann ich die Kniebeuge mit z.B. einer Gluteus Brücke oder einem Hip Thrust kombinieren. Die Kombination und Variation von Übungen wirkt sich nicht nur positiv auf die Erzeugung eines Hypertrophieeffekts aus, sondern trägt auch zur Verbesserung der Beweglichkeit bei. Beweglichkeit sollte primär als die motorische Kontrolle einer möglichst großen ROM angesehen werden.
Stabilität und Kraft aufbauen
Durch die Kombination von verschiedenen Kraftübungen in unterschiedlichen Gelenkpositionen und Winkeln und durch das Hinzufügen von externen Gewichten schafft man genau diese Zielsetzung. Nur weil viele Athleten Krafttraining nicht im Sinne eines bewegungsoptimierenden Trainings ausführen, heißt das noch lange nicht, dass Krafttraining an sich unzureichend für die Bewegungsmaximierung ist. Im Gegenteil: Ein vielseitiges Krafttraining fördert nicht nur die Beweglichkeit, sondern schafft gleichzeitig auch Stabilität und Kraft innerhalb dieser Beweglichkeit. Ein weiterer Vorteil von Krafttraining zur Verbesserung der Beweglichkeit besteht darin, dass sie immer abhängig von der jeweiligen Gelenkstabilität ist. Krafttraining führt zu einer Gelenkzentrierung. Ist ein Gelenk nicht optimal zentriert, wird dies die Beweglichkeit reduzieren. Daher ist Stabilität immer eine Grundvoraussetzung von Krafttraining. Dies ist auf der einen Seite gelenkspezifisch zu sehen, d.h., dass die Beweglichkeit eines Gelenks immer von seiner optimalen Position abhängig ist, aber gleichzeitig benötigt die Beweglichkeit der distalen Gelenke gleichzeitig auch eine proximale Stabilität.
Proximale Stabilität bei distaler Mobilität
Kelly Starrett hat dies als „spine first“ bezeichnet, bei der die muskuläre Sicherung der Wirbelsäule die Grundlage für eine aktive Beweglichkeit der Extremitäten ist. Prof. Stuart McGill sagt, dass eine proximale Stabilität im Allgemeinen notwendig für eine distale Mobilität sei. Dies gilt auch für die Wirbelsäule, da eine instabile Wirbelsäule die Beweglichkeit der distalen Gelenke negativ beeinflussen kann. Daher ist eine Gelenkzentrierung und der Aufbau einer ausreichenden Stabilität, die z.B. durch Krafttraining erfolgt, die Basis für eine optimale Beweglichkeit. Des Weiteren bewirkt Krafttraining die Hinzuschaltung von Sarkomeren, was ebenfalls zu einer besseren Beweglichkeit führt. Vor allem exzentrisches Krafttraining führt zur Produktion des Moleküls Titin. Dieses besteht aus einem elastischen (Ig) und einem festen Bestandteil (PEVK). Passives Dehnen aktiviert zwar den elastischen, nicht aber den festen Anteil dieses Moleküls. Exzentrisches Krafttraining aktiviert immer beide Segmente, was dazu führt, dass das Dehnen unter Widerstand erfolgt, sodass sich der feste Anteil zuerst an den Dehnreiz anpassen muss. Diese Anpassung führt zu einer kollagenen Verstärkung innerhalb des Muskels. Die Struktur wird dehnbarer, aber gleichzeitig fester, was zu einer reduzierten Verletzungsanfälligkeit, mehr Beweglichkeit und gleichzeitig zu mehr muskulärer Leistung führt. Gleichzeitig führt exzentrisches Krafttraining zu einer größeren Muskelfaserlänge, was sich ebenfalls positiv auf die Beweglichkeit auswirken kann.
Variantenreiches Training mit großer ROM
Wird Krafttraining in verschiedenen Winkeln mit einer sinnvollen und möglichst großen ROM ausgeführt, kann es signifikant zur Beweglichkeit beitragen. Wichtig bleibt, das mögliche Bewegungsausmaß im Fokus zu behalten und sich nicht nur auf möglichst schwere Gewichte zu konzentrieren.
Patrick Meinart
Fotos: Patrick Meinart