Schmerzen entstehen im Gehirn
Neue Erkenntnisse aus der Schmerzforschung
Chronische oder akute Schmerzen können uns schnell außer Gefecht setzen – im beruflichen Alltag, beim Sport und beim Ausüben von Hobbys; schmerzgeplagt macht einfach nichts Freude. In der Folge kommt es häufig zu Schon- und Fehlhaltungen und dadurch zu noch mehr Schmerzen. Ein Teufelskreis! Erfahren Sie, wie eine bewusste Atmung Schmerzen beeinflusst – diese sogar deutlich verringern kann – und warum es Sinn macht, den Körper in seiner Ganzheitlichkeit zu betrachten.
Schmerz wird als durch Krankheit, Verletzung oder Ähnliches ausgelöste, sehr unangenehme körperliche Empfindung oder tiefe seelische Bedrückung definiert. Aber stimmt das wirklich? Während man früher dachte, es gäbe Schmerzsensoren und ein Schmerzzentrum im Gehirn, ist der aktuelle wissenschaftliche Stand wie folgt: Ein großes, weitverzweigtes Neuronennetzwerk, dass den Thalamus, den Kortex und das limbische System einbindet, ist an der Schmerzverarbeitung beteiligt. Dieses Netzwerk ist durch unterschiedliche Einflussfaktoren veränderbar. Es handelt sich also nicht um ein Zentrum, sondern um ein Netzwerk; es gibt kein isoliertes Schmerzzentrum im Gehirn.
Die Entstehung von Schmerzen
Lorimer Moseley ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet der modernen Schmerzforschung. Seine Rekonzeptualisierung von Schmerz wirft eine ganzheitliche Perspektive auf das Thema. Seiner Meinung nach spielen die folgenden Faktoren eine Rolle:
- sensorische Reize,
- Erfahrungen,
- Kultur,
- soziales Umfeld/Arbeitsumfeld
- Erwartungen der Konsequenzen (von Gefahr und Schmerzen)
Glaube, Wissen und Logik.
All das wird im Bedeutungskontext gesetzt. Eine Handverletzung hat für einen Handballer oder Kassierer eine andere Bedeutung als für eine Fußballerin oder eine Sängerin. Hinzu kommen eigene Ängste und Erwartungen – aber auch die Ängste und Erwartungen des Umfeldes. In welchem sozialen Kontext steht man und welche Rollenbilder gilt es im soziokulturellen Umfeld zu erfüllen? Ist die Familie finanziell beeinflusst durch die Schmerzen, weil bspw. die Arbeit nicht mehr ausgeführt werden kann? Kann man sich noch uneingeschränkt um die eigenen Kinder kümmern oder im Verein noch die Arbeit leisten? All das spielt eine entscheidende Rolle bei der Bewertung, ob und wie intensiv Schmerzen wahrgenommen werden und wie gefährlich die individuelle Situation tatsächlich ist.
Das Zusammenspiel
von Gehirn und Körper Um Schmerzen zu verstehen, muss man die drei Hauptaufgaben des Nervensystems betrachten:
1. Es empfängt sensorische Informationen (afferent).
2. Es entscheidet, was der Input bedeutet und was getan werden muss (Interpretation und Entscheidung).
3. Es erzeugt einen motorischen Output (efferent).
Es gibt also immer den Dreiklang aus Input, Integration und Output. Dabei setzt sich der Input aus der Exterozeption, der Überwachung der Umwelt, zusammen: Wir sehen, riechen, hören, schmecken und fühlen. Der Begriff Interozeption hingegen bezeichnet das Bewusstsein für körperliche Empfindungen und Gefühle, also z. B. Herzfrequenz, Atmung, viszerale Organe, Thermoregulation und das Gefühl der Eigenverantwortung. Das dritte Inputsystem ist die Propriozeption, das Bewusstsein für Gliedmaßen und die Körperposition im Raum, die über unterschiedliche Rezeptoren wie Mechanound Chemorezeptoren sowie Nozizeptoren aufgenommen werden; Nozizeptoren sind sogenannte Gefahrensensoren.
Die Neuromatrix-Theorie
Die Neuromatrix-Theorie beruht auf der Gate-Control- Theorie und geht auf den kanadischen Schmerzforscher Ronald Melzack zurück. Dabei spielen sowohl die eingehenden als auch die verarbeiteten ausgehenden Informationen eine Rolle. Die auf das Nervensystem einwirkenden Informationen lassen sich in drei Bereiche gliedern:
- kognitiv assoziierte Gehirnbereiche (Bedeutung, Ängste, Erwartungen),
- sensorische Signale (Haut, Organe, Muskel- Skelett-System) und
- emotional assoziierte Gehirnbereiche (limbisches System, Homöostase, Stressmodus).
Im Zusammenspiel wirken sie sich auf die Perzeption von Schmerz (sensorisch, affektiv, kognitiv), das Abrufen von Handlungsprogrammen (willkürlich und unwillkürlich) und das Abrufen von Stressmanagementprozessen (Hormonhaushalt und Immunreaktionen) aus. Diese ein- und ausgehenden Informationen entsprechen charakteristischen Mustern, der sogenannten Neurosignatur. Diese ist durch den sensorischen Input und die Kognition beeinflussbar; es erfolgt eine individuelle Reaktion. Schmerzen entstehen also im Gehirn, genauer gesagt: auf kortikaler Ebene. Denn hier werden die Informationen verarbeitet und die entsprechende Reaktion produziert; hier findet die bewusste Wahrnehmung statt und beeinflusst damit das Schmerzempfinden.
Nozizeptoren können eine Gefahrensituation im Körper erkennen und entsprechende Bereiche im Gehirn aktivieren. Über das Rückenmark und den Hirnstamm senden sie dann entsprechende Aktivierungssignale. Aber auch andere Systeme können die Gefahrensensoren beeinflussen, z. B. Immunzellen oder Hormone. Sensorische, affektive und kognitive Komponenten werden also miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.
Schmerzwahrnehmung
Schmerz bedeutet nicht, dass periphere Rezeptoren und Gewebe unbeteiligt sind, sondern dass diese Gewebe nur Gefahrensignale an das Gehirn senden. Erst im Gehirn entsteht auf kortikaler bewusster Ebene die Schmerzwahrnehmung. Schmerz ist somit eine Entscheidung oder ein Konstrukt des Gehirns, das auf der Wahrnehmung einer Bedrohung beruht. Daher sollte das Gehirn das Hauptziel für das Training von Menschen sein, die Schmerzen und Leistungsblockaden haben. Der Fokus sollte sich von der biomechanischen auf die neurozentrierte Perspektive entwickeln. Denn Verletzung ist nicht gleich Schmerz und Schmerz ist nicht gleich Verletzung. Wir sollten anfangen, Schmerz als ein Aktionssignal zu verstehen und genau das auch kommunizieren. Er ist kein Indikator für eine Schädigung.
Neurozentriertes Training
Neurozentriertes Training betrachtet das Zusammenspiel der Körperfunktionen aus der neurowissenschaftlichen Perspektive. Im Fokus stehen im Gegensatz zur biomechanischen Betrachtungsweise nicht Muskeln, Sehnen und Bänder, sondern das Gehirn. Das Gehirn steuert die Abläufe im gesamten Körper und wirkt wie der Drahtzieher in einem großen Netzwerk. Mit diesem Ansatz sollen Schmerzen ganzheitlich und dauerhaft beeinflusst werden. Die Schmerzneuromatrix ist individualspezifisch, es gibt also eine große Variabilität in Hinblick darauf, welche kortikalen Bereiche aktiviert werden, um Schmerzen zu erzeugen. Dementsprechend muss auch das Training personalisiert und auf das Individuum angepasst werden. Das kann sich von Person zu Person und von Tag zu Tag, selbst von Uhrzeit zu Uhrzeit verändern. Die eingehenden Informationen, die das Nervensystem zu verarbeiten hat, verändern sich ständig. Da Schmerz eine neuroplastische Veränderung hervorrufen kann, ist es sehr wichtig, im Training nicht über die Schmerzgrenze zu gehen. Hierbei ist es wiederum individuell induziert relevant, die unterschiedlichen Grade von Erschöpfung, ungewohntem Reiz und Schmerzwahrnehmung zu differenzieren.
Schmerzen und Atmung hängen zusammen
Das Zwerchfell ist der wichtigste Atemmuskel. Als große Muskelplatte trennt er den Bauch- vom Brustraum. Viele Muskelfaszien und weitere Teile des menschlichen Bewegungssystems, wie die Wirbelsäule, sind mit dem Zwerchfell verbunden. Wenn wir atmen, senkt und hebt sich das Zwerchfell und „massiert“ die anliegenden Organe sowie die umgebenden Faszienketten. Eine tiefe und bewusste Atmung kann für Entspannung sorgen, indem durch diese „innere“ Massage Verspannungen und Schmerzen in den Faszien und im Bewegungsapparat gelindert werden. Wenn nun im Gegensatz dazu im stressigen Alltag oder durch lange Sitzzeiten – der Beckenboden wird dann zusammengeschoben – sehr flach geatmet wird, bleibt diese Massage aus. Unwohlsein, Verkrampfungen und Schmerzen insbesondere im Rücken können die Folge sein oder sich verstärken.
Eine bewusste Atmung ist also besonders wichtig. So können Schmerzen nicht nur im Vorfeld vermieden, sondern auch gelindert werden. Nicht nur das Zwerchfell, auch der Beckenboden spielt eine wichtige Rolle. Er hält unsere inneren Organe und verschließt die Körperöffnungen. Das Zwerchfell und der Beckenboden arbeiten zusammen: Senkt sich das Zwerchfell beim Einatmen, werden die Bauchorgane nach unten gedrückt, der Beckenboden dehnt sich ein wenig aus und senkt sich nach unten. Die Beckenbodenmuskulatur zieht sich kraftvoll zusammen und entspannt wieder. Eine flache Atmung kann diese Funktion stark verringern, der Beckenboden wird geschwächt.
Man sollte stets das gesamte Atemvolumen nutzen, d. h. sowohl in den Bauch als auch in den Brustkorb atmen. Um den Vagusnerv zu stimulieren und damit den Regenerationsmodus des Körpers zu unterstützen, empfiehlt sich der Fokus auf die Bauchatmung. Durch die vielfachen Verzweigungen des Vagusnervs ist er mit fast allen inneren Organen verbunden. Durch die fokussierte Atmung in den Bauch wird – durch die An- und Entspannung und durch die Ausdehnung und Mobilisation – dieser Hirnnerv also direkt aktiviert und stimuliert.
Fazit
Der menschliche Körper ist ein hochkomplexes System, in dem viele Abläufe voneinander abhängig sind und zusammenspielen. Mit einer ganzheitlichen Perspektive können wir gesundheitliche Vorteile daraus ziehen und so z. B. geschickt eine bewusste Atmung zur Schmerzprävention und -linderung nutzen. Ebenso ist Aufklärung unabdingbar! Wir müssen unsere Kunden befähigen, den eigenen Körper zu verstehen, um ihm wieder zu vertrauen. Statt Angst zu machen und Hinweise zu geben, was alles nicht gemacht und vermieden werden sollte, ist es sinnvoll, Mut zu machen und zu empowern. Das beginnt mit sachlicher und verständlicher Aufklärung, dem Erklären von Zusammenhängen, dem Transfer auf den Alltag und die jeweilige Lebenssituation sowie schließlich über gezieltes individuelles Training. Dabei sollte der gesamte Körper eingebunden und die sensorischen, affektiven und kognitiven Komponenten miteinander verknüpft werden. „One size fits all“ passt dann natürlich nicht mehr – aber genau hier liegen in Zukunft die Chancen: in multimodalen Konzepten, die vorhandene Schnittstellen nutzen, Synergieeffekte schaffen, analog und digital nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung betrachten und individuell evaluieren, welchen Beitrag jeder Einzelne leisten kann.
Luise Walther
Luise Walther
Die Berliner Personal Trainerin Luise Walther arbeitet an der Schnittstelle Medizin-Fitness. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Reha- und Trainingsprozessen mit Fokus auf Schmerzreduzierung und Bewegungsoptimierung ihrer Kunden.
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