Nervenschmerzen
Wenn der Körper brennt
Kribbeln in Händen und Füßen, schmerzhafte Empfindungen oder Taubheitsgefühle können die ersten Anzeichen einer Neuropathie sein. Ca. drei Prozent der deutschen Bevölkerung sind von einer solchen Nervenschädigung betroffen. Welche Ursachen liegen dieser Erkrankung zugrunde und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Eine Neuropathie ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems (PNS) mit vielfältiger Symptomatik. Das periphere Nervensystem hat die Aufgabe, das Zentralnervensystem (ZNS) mit den Extremitäten und den Organen zu verbinden. Das PNS ist nicht wie das ZNS geschützt von Knochen oder der Blut-Hirn-Schranke, was dazu führt,dass es anfälliger für Verletzungen und Toxine ist. Neuropathien sind häufig Sekundärerkrankungen anderer Erkrankungen wie Diabetes mellitus. Man unterscheidet die systemische Form der Erkrankung, die Polyneuropathie, bei der mehrere Nerven betroffen sind, und die Mononeuropathie, bei der nur ein Nerv betroffen ist.
Ursachen
Es gibt infektionsbedingte Erkrankungen der Nerven, bei denen das körpereigene Immunsystem bei dem Versuch, Erreger zu beseitigen, die Nerven schädigt. Dies ist eine Art überschießende Reaktion, bei der nicht nur der potenzielle Erreger, sondern auch das körpereigene Gewebe geschädigt wird. Dabei wird meist die Myelinschicht zerstört, die Schutzummantelung der Nerven, die u. a. für die Informationsweiterleitung von Nerv zu Nerv verantwortlich ist. Autoimmunerkrankungen haben eine ähnliche Wirkung, da hierbei vom Immunsystem produzierte Antikörper die Nerven angreifen und diesen Schäden zufügen, die entweder zu sensorischen, zu motorischen oder zu sensorisch-motorischen Störungen führen. Auch metabolische Erkrankungen können zu einer Neuropathie führen z. B. aufgrund einer Darmerkrankung, eines Vitaminmangels oder eines Mangels an Vitamin B12 oder Folsäure. Auch neurotoxische Substanzen wie Schwermetalle oder Pflanzenschutzmittel können das Nervengewebe angreifen. Eine Zerstörung der Myelinschicht lässt sich beim Neurologen über eine verminderte Nervenleitgeschwindigkeit nachweisen. Dies ist z. B. bei Multipler Sklerose der Fall. Wichtig ist jedoch, an dieser Stelle zu erwähnen, dass eine Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit allein nicht ausreichend ist, um eine MS zu diagnostizieren.
Nervenschädigung
Die Ursache von Nervenschmerzen bestimmt auch die Art der Behandlung. Die meisten Nervenschmerzen lassen sich aufgrund von Kompressionen in spezifischen Strukturen erklären, wie dies etwa beim Karpaltunnelsyndrom der Fall ist, bei dem es häufig zu einer Einengung des mittleren Armnervs (Nervus medianus) kommt. Häufig lassen sich solche Probleme durch Dekompressionstechniken und Mobilisationsübungen beheben. Natürlich kann der Grund für einen derartigen Schmerz auch eine Verletzung sein, bei der der Nerv beschädigt wurde, wie etwa nach einem Unfall. In dieser Situation wächst der Nerv in der Regel wieder zusammen und kann in seinem Wachstum durch oben genannte Übungen verbessert werden. Das Nervenwachstum beträgt etwa 1 mm am Tag und dauert circa ein bis zwei Jahre an. Über diesen Zeitraum hinaus wird der Nerv nicht mehr wachsen. Es gilt daher nach einer Nervenverletzung nicht einfach abzuwarten, sondern bei einer Nervenschädigung die Heilung durch sinnvolle Übungen zu unterstützen.
Kompression
Kompressionen entstehen häufig in spezifischen Regionen wie dem Karpaltunnel. Hier kann die motorische und sensorische Symptomatik konkreten Nerven oder spinalen Segmenten zugeordnet werden, was ein wichtiger Bestandteil der Anamnese ist. Die sensorische und motorische Testung bestimmter Muskeln und Hautareale gibt einen Rückschluss darüber, welcher Nerv betroffen ist und an welcher Stelle es zu einer Kompression gekommen sein könnte. Ohne diese Diagnose ist eine sinnvolle Behandlung nicht möglich.
Bei Diabetes oder Prädiabetes beginnen meist beide Füße zu kribbeln. Dies verstärkt sich häufig zu einem starken Verspannungsgefühl bis hin zu Schmerzen, die langsam die Beine hochwandern. Eine diabetische Neuropathie arbeitet sich in der Regel bis hin zum Oberschenkel bilateral vor. Eine Nervenkompression ist bei bilateralen Beschwerden auszuschließen, da es unwahrscheinlich ist, dass der gleiche Nerv zeitgleich beidseitig komprimiert ist. Inwieweit Diabetes oder Prädiabetes vorliegt, lässt sich einfach über den Blutzucker und den Hämoglobinwert beim Arzt überprüfen.
Die Anamnese erfolgt in erster Linie über die Symptomatik des Patienten. Häufig handelt es sich dabei um Gefühlsstörungen wie „Ameisenkribbeln“, leichtes Brennen oder Taubheitsgefühle. Lassen sich diese Wahrnehmungen nur einer Extremität zuordnen, ist eine Nervenkompression wahrscheinlich. Sind beide oder alle Extremitäten betroffen, ist die Ursache mechanischen Ursprungs weniger wahrscheinlich. Beidseitige Probleme können auf Verletzungen im Rückenmark oder ein zentrales Problem hindeuten, das seinen Ursprung im Kortex hat. Dies kann sich z. B. nach einem Schlaganfall oder bei MS präsentieren oder sich als Übererregung in vereinzelten Gehirnregionen zeigen. Diese Übererregung lässt sich vereinzelt auch lokal in den schmerzenden Extremitäten nachweisen. Hierbei handelt es sich um eine Überempfindlichkeit im Rückenmark ohne ersichtlichen Grund, die zu Sensibilitätsstörungen und neuropathischen Schmerzen führen kann. Eine motorische Einschränkung ist in diesen Fällen meist nicht zu erkennen.
Tests
Zu den Testungen einer Neuropathie gehört u. a. eine Sensibilitätsprüfung mit der Stimmgabel (Vibrationsprüfung), eine Zweipunkt-Diskrimination (propriozeptive Prüfung) oder eine taktile Reizgebung (propriozeptive Prüfung) sowie Temperaturwahrnehmung (heiß/kalt). Die Testung von Vibration und Propriozeption gehört zur Testung der großen Nervenfasern (large fiber), die Temperaturwahrnehmung zählt zur Testung der kleinen Nervenfasern (small fiber). Neben der sensorischen Testung gilt es auch, die Motorik zu überprüfen: Ist der Muskel in der Lage, optimal zu arbeiten und sich zu kontrahieren, oder liegt in der schmerzhaften Region bereits eine muskuläre Atrophie vor? Ein motorischer Verlust macht sich durch muskuläre Schwäche und schnelle Ermüdung bemerkbar. Der Muskel verliert seine Kraft und Ausdauerfähigkeit. Vor allem im Verhältnis zur gegenüberliegenden Extremität lässt sich dies in der Regel gut beobachten. Nervenschmerzen führen nicht selten zu einer Reduktion der Muskelmasse, was u. a. mit einer Reduktion der Reflexe einhergeht.
In diesem Fall spricht man auch davon, dass die Person hyporeflexiv ist. Schäden im kortikalen Bereich, die ebenfalls zu Nervenschmerzen führen können, machen sich in der Regel durch eine stärkere Ausprägung der Reflexe bemerkbar. Hierbei spricht man von einer Hyperreflexivität. Neben der sensorischen und motorischen Testung sollte auch die schmerzhafte Stelle visuell untersucht werden. Bei anhaltenden neuropathischen Schmerzen zeigen sich häufig eine Veränderung der Hautfarbe, eine schlechtere Durchblutung und Haarverlust im Vergleich zu einer nicht betroffenen Stelle. Farbveränderungen wie eine bläuliche oder rötliche Haut können auf eine Beteiligung des Nervensystems hindeuten, was bedeutet, dass die Regulation der Durchblutung gestört ist. In diesem Fall liegt häufig auch ein reduzierter Blutdruck vor.
Behandlung
Die Ursache der Neuropathie bestimmt auch die Behandlung. Liegt eine bakterielle Ursache zugrunde, wird antibiotisch behandelt. Bei einer toxischen Ursache sollten die relevanten Toxine eliminiert werden. Es ist eventuell auch eine Ausleitung von Schadstoffen denkbar. Bei symptomatischen Neuropathien ist eine Unterstützung durch Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll. Bei mechanischen Problemen, die sich auf eine Extremität beschränken, sind Mobilisationsübungen der Nerven (Neuro Flossing) oder manuelle Entkompressionen sinnvoll. Ein neuropathischer Schmerz kann sich jedoch auch entwickeln, wenn das Nervensystem nicht optimal arbeitet und funktionelle Defizite aufweist. In der Tat führt die Störung von sensorischen Informationen häufig zu neuropathischen Beschwerden, die oft nicht nur auf eine Extremität beschränkt sind. Bilaterale Probleme, die sich in den unteren Extremitäten zeigen, können nicht nur auf ein Problem im Rückenmark hindeuten, sondern auch auf ein übergeordnetes Problem im kortikalen Bereich des Parietallappens. Beide Extremitäten sind repräsentiert im rechten Parietallappen. Während grundsätzlich sensorische Informationen im kontralateralen Cortex verarbeitet werden, besitzt der rechte Teil vom Parietallappen eine beidseitige Verarbeitung. Um zu prüfen, ob der Parietallappen bei neuropathischen Schmerzen beteiligt ist, ist es sinnvoll, die grundsätzliche Wahrnehmung zwischen der rechten und der linken Körperhälfte zu vergleichen. Wenn es funktionelle Defizite im rechten Parietallappen gibt, dann ist es wahrscheinlich, dass sich auch unabhängig vom neuropathischen Schmerz weitere sensorische Defizite auf der linken Körperhälfte zeigen. Auch andere Stellen auf der linken Körperhälfte können durch eine taktile Testung oder mit Vibration geprüft werden. In diesem Fall würde eine sensorische Stimulation auf der linken Körperhälfte (leichtes Stretching, taktile Reize, Foam Rolling etc.) zu einer Abnahme des Schmerzniveaus führen.
Zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen lassen sich je nach Ursprung unterschiedliche Methoden nutzen. Zu diesen gehören z. B. Vibration zur Stimulation der Mechanorezeptoren, Photobiomodulation zur Verbesserung der ATP-Produktion, Bewegung der Extremitäten zur Stimulation der Mechanorezeptoren, Zwei-Punkt-Diskrimination nicht nur als Assessment, sondern auch als propriozeptives Training, bei metabolen Problemen die Regulation des Blutzuckers, eventuell die Gabe eines B-Vitamin-Komplexes, Atemtraining zur besseren Sauerstoffversorgung des Gehirns sowie Mobilisationsübungen wie Neuro Flossing für eine bessere Beweglichkeit der Nerven und zur Lösung von lokalen Kompressionen. Darüber hinaus reduzieren Nervenmobilisationsübungen Entzündungen und führen zu einer besseren Gleitfähigkeit der Nerven in Bezug auf das umliegende Gewebe. Zur Eigenbehandlung empfehlen sich auch Cremes mit Capsaicin, das den Neurotransmitter „Substanz P“ reduziert, der Inflammation und Schmerzen auslösen kann. Dieser Wirkstoff eignet sich gut, um lokale Schmerzen in den Griff zu bekommen, und assistiert bei der Ursachenbekämpfung
Patrick Meinart
Patrick Meinart
ist Sporttherapeut, Psychologe sowie Gründer der Release Fitness Academy. Außerdem ist er Ausbilder im Bereich des neurozentrierten Trainings und arbeitet an der Schnittstelle zwischen Krafttraining, Therapie und Sport auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse.
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