Stress und Gehirn
Der Hypothalamus als primärer Stressregulator
Unser Gehirn bestimmt, wie wir auf Stress reagieren. Über eine Aktivierungskette, die vom Hypothalamus bis zu den Nebennieren reicht – die sogenannte Stressachse –, bewirkt Stress die Freisetzung von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus der Nebennierenrinde ins Blut. Dies versetzt den Körper in einen „Überlebensmodus“ und stellt die Energieversorgung des Gehirns sicher. Welche Reize stressen den Hypothalamus und wie reagiert er darauf?
Die Fähigkeit, auf Reize aus unserer Umwelt adäquat zu reagieren und somit unsere Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, ist die Grundlage für eine optimale Stressreaktion. Stress führt zu einer Reaktion des Körpers auf eine unerwünschte Situation mit dem Ziel, ein Gleichgewicht aus äußeren Umständen und inneren Prozessen herzustellen. Die körpereigene Stressreaktion ist in erster Linie ein schützender Mechanismus, der uns in bedrohlichen Situationen handlungsfähig macht und uns mit ausreichend Energie versorgt. Stress führt zu einer vermehrten Freisetzung von Glukose, was unseren Blutzuckerspiegel auch bei Nahrungsmangel stabilisiert und uns somit handlungsfähig macht. Akuter Stress wirkt daher produktiv und sichert unser Überleben in bedrohlichen Situationen. Gerät der akute Stress jedoch außer Kontrolle, z. B. durch wiederholte stressauslösende Reize, kann sich im Laufe der Zeit chronischer Stress entwickeln, der es uns aufgrund eines körpereigenen Gewöhnungseffekts langfristig erschwert, in einen stressfreien Zustand zurückzukehren. Eines der wichtigsten Organe in diesem biologischen Prozess ist unser primäres neuroendokrines Organ, der Hypothalamus. Der Hypothalamus liegt im subkortikalen Bereich des Gehirns und ist das wichtigste Steuerungszentrum des vegetativen Nervensystems. Neben dem „Stressmanagement“ ist der Hypothalamus für die Aufrechterhaltung einer Homöostase (Temperatur, Blutdruck) und für die Steuerung der Sexual- und Fortpflanzungsfunktion verantwortlich. Daher können chronische Stressreaktionen, die zu einer Überaktivität des Hypothalamus führen, auch diese Prozesse negativ beeinflussen.
Stresshormon Cortisol
Das wichtigste Hormon der Stressreaktion ist das Cortisol. Die Ausschüttung von Cortisol wird durch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- Achse (HPA-Achse) gesteuert. Unterschiedliche Arten von Stress führen gleichermaßen zur Aktivierung von Nervenzellen im paraventrikulären Nukleus des Hypothalamus und dadurch zu einer Freisetzung des Hormons „Corticoptropin Releasing Factor“ (CRH), das über den Portalblutkreislauf zur Adenohypophyse gelangt und hier zu einer Freisetzung des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) führt. Daraus resultiert die Freisetzung von Cortisol aus der Nebennierenrinde. Cortisol passt den Organismus an die akute Stresssituation an, indem es zu einer Mobilisierung von Energie in Form von Glukose führt, während gleichzeitig die Immunantwort reduziert wird. Dies ist auch der Grund, warum bei allergischen Reaktionen Cortison ein probates Mittel ist, da es im Körper zu Cortisol umgewandelt wird und dadurch die Immunreaktion dämpft.
Nach Beendigung der Stresssituation oder nach Anpassung des Individuums an die Stresssituation führt ein Feedback-Mechanismus zur Reduktion von Cortisol. Der Hypothalamus reagiert auf das freigesetzte Cortisol, indem die Produktion von CRH reduziert und darauffolgend weniger Cortisol freigesetzt wird. Ein Überschuss an Cortisol wird dadurch vermieden. Geschieht dies nicht bspw. aufgrund einer chronischen Belastung, kann es zu zahlreichen Störungen kommen – etwa im Stoffwechsel, in der Immunabwehr, im Herz-Kreislauf-System –, zu Lern- und Gedächtnisstörungen und schließlich auch zur Depression. Eine fein abgestimmte Anpassungsfähigkeit der Stresshormonregulation ist also wesentlich, um die Entwicklung einer pathologischen Regulationsstörung zu vermeiden. Akute Stressreaktionen sind kumulativ. Sie können sich verstärken und zu einer Chronifizierung führen, was die Sensibilität der Cortisolrezeptoren im Körper reduziert – eine Cortisolresistenz kann die Folge sein. Das Resultat ist eine verstärkte Cortisolausschüttung, um die Resistenz zu kompensieren, was langfristig jedoch nicht funktioniert und den Körper aus der Homöostase bringt. Die Folge sind deshalb Energieverlust, chronische Erschöpfung, Burnout, Depressionen und neuroinflammatorische Prozesse.
Stressfaktor Licht
Der Hypothalamus reagiert nicht nur auf spezifische stressauslösende Situationen, sondern kann auch chronischen Stress aufgrund einer Veränderung im Lifestyle, der Ernährung und von inflammatorischen Prozessen im Gehirn entwickeln. Einer der wichtigen Faktoren zur Optimierung der Funktion unseres neuroendokrinen Organs ist das natürliche Licht. Sonnenlicht führt zu einer optimalen Funktion des Schlaf-Wach-Rhythmus, wofür der Hypothalamus verantwortlich ist. Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist der wichtigste zirkadiane Rhythmus, der unabhängig von äußeren Faktoren abläuft und unsere innere Uhr darstellt. Die Synchronisation und Anpassung erfolgt primär über spezielle Photorezeptoren in der Netzhaut, die wiederum über den Tractus retinohypothalamicus zum Nucleus suprachiasmaticus des Hypothalamus projizieren, wo diverse Körperfunktionen koordiniert werden. Um dem Hypothalamus seine optimale Funktion zu ermöglichen, sind wir auf eine ausreichende morgendliche Lichtversorgung angewiesen. Optimal ist eine morgendliche Lichtdusche von mindestens zehn Minuten mit mindestens 5 000 Lux Lichtstärke. Diese kann z. B. über spezielle Apps, sog. Luxmeter, gemessen werden. Darüber hinaus benötigen wir den Blaulichtanteil der Sonnenstrahlen, der aktivierend auf unseren Sympathikus wirkt und eine optimale Energie- und Leistungsversorgung garantiert. Ab etwa 17 Uhr sollte der Blaulichtanteil jedoch deutlich reduziert werden, um den zirkadianen Rhythmus nicht zu stören, da naturgemäß das blaue Licht den Tag prägt, während der Rotanteil im Lichtspektrum den Abend einleitet. Daher ist es sinnvoll, abends auf künstliches Licht zu verzichten, da dieses einen sehr hohen Blaulichtanteil aufweist. Ein Fehlen von natürlichem Licht morgens und zu viel künstliches Licht tagsüber und abends sorgt für einen gestörten Schlaf-Wach- Rhythmus, was wiederum zu Dysfunktionen im zirkadianen Rhythmus und sogar zu Entzündungsprozessen im Hypothalamus führen kann. Die langfristige Folge: eine chronische Stressreaktion.
Stressfaktor Ernährung
Der Hypothalamus als Sitz unserer zentralen Stresssteuerung kann auch durch andere Prozesse negativ beeinträchtigt werden. Einer der wesentlichen Faktoren für die Bildung von Entzündungsprozessen ist eine hyperkalorische Ernährung. Diese führt im Verlauf der Gewichtszunahme zu einer Freisetzung von verschiedenen Zytokinen (Entzündungsfaktoren) und zur Aktivierung von Mikrogliazellen im Gehirn. Mikrogliazellen sind die gehirneigenen Immunzellen und werden aktiviert, um Entzündungsprozesse in den Griff zu bekommen. Dabei sondern sie spezifische Giftstoffe ab, um das Gehirn vor schädlichen Substanzen wie Toxinen und anderen Pathogenen zu schützen. Werden aber Microgliazellen zu häufig aktiviert, kommt es zu einem „Priming“, was zu einem unkontrollierten dominoartigen Effekt und langfristig zu neurodegenerativen Prozessen führen kann. Vor allem bei einer kohlenhydratbetonte Ernährung, die einen hohen Zuckeranteil aufweist (im Vergleich zu einer fettreichen Ernährung bei gleicher Kalorienmenge), kann es zu einer Aktivierung von Mikrogliazellen kommen. Eine fettbetonte Ernährung (z. B. ketogene Diät) wirkt sich bei einem Kalorienüberschuss nicht per se negativ aus. Eine zu hohe Zufuhr von Kohlenhydraten besonders in Form von Zucker sollte vermieden werden, um eine hypothalamische Entzündung zu vermeiden.
Stress und Depressionen
Der Hypothalamus weist bei chronischem Stress und Depressionen eine starke Vergrößerung auf. Dieses Wachstum führt sehr wahrscheinlich zu einer erhöhten Produktion von Cortisol. Der Hypothalamus passt sich seiner Anforderung an und wächst. Ein höherer Bedarf an Cortisol setzt einen größeren Hypothalamus voraus. Dieses Wachstum beträgt etwa 5 Prozent. Je stärker der chronische Stress oder eine Depression ist, desto größer ist das Wachstum. Die Zufuhr von Antidepressiva hat keinen Effekt auf die Größe des Hypothalamus. Mittlerweile wird vermutet, dass Entzündungen im Gehirn, allen voran auch im Hypothalamus, zu Depressionen führen können. Entzündungen im Hypothalamus führen zu einer Dysregulation der Stressachse, erhöhen dadurch extrazelluläres Glutamat, das erregend und in hohen Mengen neurologisch wirkt, führen zu einer Reduktion des hemmenden Neurotransmitters GABA, erhöhen Entzündungsmarker und aktivieren Microgliazellen, die wiederum die Neuroinflammation verstärken, sich auf das ganze Gehirn ausweiten und Vorboten von neurodegenerativen Erkrankungen sein können.
Unlängst wurde bekannt, dass chronischer Stress diesen Effekt auslösen kann. Gleichzeitig können traumatische Erfahrungen Entzündungsreaktionen im Gehirn auslösen, die langfristig zu chronischem Stress führen. Depressionen, die durch Entzündungsprozesse im Gehirn entstehen, sind häufig auch der Grund für eine therapieresistente Depression. In den letzten Jahren gab es zwar Fortschritte in Bezug auf Verträglichkeit und Nebenwirkungen von Antidepressiva, die Wirkung hat sich jedoch in den zurückliegenden Jahrzehnten kaum verbessert. Dies liegt zum einen am häufigen „Trial-and-Error-Verfahren“, indem Antidepressiva wie Serotoninwiederaufnahmehemmer verschrieben werden in der Hoffnung, dass die Ursache für eine Depression ein Serotoninmangel ist. Nahezu alle Antidepressiva bewirken direkt oder indirekt eine Verstärkung der monaminergen Neurotransmission. Als monoaminerg werden Nervenzellen bezeichnet, die Monoamine als Neurotransmitter freisetzen, z. B. Serotonin, Dopamin und Noradrenalin. Das depressive Symptombild ist jedoch vielschichtig und zeigt eine große Variationsbreite. Aufgrund dessen ist es notwendig, ein eher individualisiertes Bild von der Depression zu erstellen, um zukünftige Behandlungen zu optimieren. Die Stressregulation sollte hierbei ein wesentliches Element bei der Behandlung von Depressionen sein.
Adaptogene gegen Stress
Zur Reduktion von chronischem Stress gibt es neben der morgendlichen Lichtdusche viele weitere Methoden, die wirksam sein können. Zu diesen gehören etwa regelmäßige Bewegung/Sport, Schlafoptimierung, Achtsamkeitstraining, Atemtraining, Steigerung der Resilienz durch Kältebehandlung, regelmäßiges Saunieren bis hin zu Nahrungsergänzungsmitteln wie Adaptogenen, die die körpereigene Widerstandsfähigkeit verbessern und neuroprotektiv wirken. Adaptogene sind natürliche Pflanzenwirkstoffe, oft Kräuter, Wurzeln oder Pilze, die dem Körper helfen, sich an Stresssituationen anzupassen – darunter Panax Ginseng, Ashwagandha, Rhodiola, Maca und Heilpilze wie Cordyceps, Igelstachelbart und Reishi. Adaptogene wirken auf molekularer Ebene, indem sie das Gleichgewicht zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren regulieren. Sie verbessern die körpereigene Stressreaktion, indem sie Müdigkeit reduzieren, den Fokus verbessern und die Toleranz gegenüber Stressoren erhöhen. Der Effekt ist nicht auf einzelne Regionen im Gehirn beschränkt. Die genannte Wirkung entsteht sehr wahrscheinlich aufgrund von neuroprotektiven, antiinflammatorischen und antidepressiven Mechanismen, die die Adaptogene in der Lage sind zu leisten. Dazu zählt u. a. die Reduktion von Enzymen, die unter Stressreaktionen Neurotransmitter wie Dopamin und Noradrenalin in einem unerwünschten Maß produzieren.
Patrick Meinart
Patrick Meinart
ist Sporttherapeut, Psychologe sowie Gründer der Release Fitness Academy. Außerdem ist er Ausbilder im Bereich des neurozentrierten Trainings und arbeitet an der Schnittstelle zwischen Krafttraining, Therapie und Sport auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse.
www.release-fitness.com
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