Verletzungen früh funktionell nachbehandeln
Dr. med. Philipp Appelmann, Orthopäde, Sportmediziner und Mannschaftsarzt beim FSV Mainz 05, und Simon Roth, Physiotherapeut und EMG-Spezialist u. a. bei Mainz 05
Nach einer Sportverletzung ist das Timing des Wiedereinstiegs ins Training von größter Wichtigkeit. „Nicht zu früh zu viel und nicht zu lange zu wenig“ – darin sind sich Dr. Philipp Appelmann (l.) und Simon Roth einig. Außerdem sollte die Nachbehandlung auf funktioneller Ebene stattfinden und den interdisziplinären Austausch miteinbeziehen.
body LIFE: Welche Art von Sportverletzungen gibt es?
Dr. Philipp Appelmann: „Sportverletzungen“ sind ein sehr komplexes Thema, das prinzipiell differenziert betrachtet werden muss. Einerseits gibt es die traumatischen Verletzungen, die durch einen akuten Unfall entstehen, z. B. eine Kreuzbandruptur. Hier steht am Anfang der Arzt, der die Erstversorgung übernimmt, also die Behandlung und Diagnose. Danach geht es zum Physiotherapeuten, der erst in der Akutphase mit abschwellenden Maßnahmen behandelt und später die Muskeln oder Gelenke wieder aktviert und mobilisiert. Nach einer gewissen Zeit ist dann wieder eine Belastung möglich, z. B. ein weiterführendes Training im Fitnessstudio. Andererseits gibt es die überlastungsbedingten Schäden, etwa den Tennisarm oder eine Sehnenentzündung. Hierbei muss die Belastung reduziert bzw. ganz weggenommen werden, sodass kein Schmerz mehr auftritt.
body LIFE: Welches Training eignet sich zur Rehabilitation?
Dr. Philipp Appelmann: Band- und Muskelverletzungen z. B. heilen in drei unterschiedlichen Phasen: In der Akutoder Entzündungsphase, die bis zu vier Tage anhält, finden reparative Stoffwechselprozesse statt. In der Proliferationsphase – vom 5. bis 21. Tag – kommt es zu ungerichteten Gewebewucherungen, die durch physiotherapeutische Techniken wie Mobilisation und Dehntechniken im schmerzfreien Bereich gelenkt werden können. Die Muskeln werden wieder an spätere funktionelle Aufgaben gewöhnt. Die dritte Phase ist die sogenannte Re- Modellierungsphase; ab Tag 21 bis zu einem Jahr. Hier verbessert sich das Gewebe wieder.
Die richtige Auswahl und Dosierung der Therapiereize auf das Gewebe sind entscheidend. Hierfür sollte ein Arzt einen individuellen Therapieplan erstellen und ein Physiotherapeut für die Umsetzung verantwortlich sein. Bei zunehmendem Funktionsgewinn kann eine Überleitung zur Eigenübung erfolgen bzw. können durch Fitnesstrainer angeleitete Übungen durchgeführt werden. Im gesamten Rehabilitationsprozess ist eine enge Kommunikation zwischen Arzt, Physiotherapeut, Athletik- oder Fitnesstrainer und Patient entscheidend, um Heilungsverzögerungen oder Kompensationsmechanismen zu vermeiden.
Eine Hilfe bei der Belastungssteuerung stellen neben der Erfahrung des Therapeuten insbesondere objektivierbare Messmethoden wie die EMG-Analyse und Funktionstestungen dar.
body LIFE: Was genau ist die EMG-Analyse und was kann sie leisten?
Simon Roth: Die Elektromyographie, kurz EMG, ist eine Methode, um die Muskelaktivität zu visualisieren. Ich beschäftige mich schon seit zehn Jahren mit dieser medizinischen Technologie und biete sie mittlerweile in meiner Praxis in Mainz an. Seit etwa fünf Jahren wenden wir EMG auch erfolgreich bei Mainz 05 an im Bereich Muskelverletzungen. Gerade im Leistungssport kommt es häufig zu Muskelverletzungen, aber in der Rehabilitation wird dann oft falsch trainiert.
EMG kann dabei helfen, solche Verletzungen deutlich zu minimieren, und kann außerdem die Entstehung muskulärer Dysbalancen verhindern. Zur essenziellen Nachsorge von Sportverletzungen gehört zuallererst ein grundlegendes Verständnis der Muskulatur; dieses bietet uns die EMG-Technologie. Vieles steckt hier noch in den Kinderschuhen, aber in Zukunft wird die EMG-Analyse sicherlich auch im Fitnessbereich breite Anwendung finden.
body LIFE: Was genau ist die EMG-Analyse und was kann sie leisten?
Simon Roth: Die Elektromyographie, kurz EMG, ist eine Methode, um die Muskelaktivität zu visualisieren. Ich beschäftige mich schon seit zehn Jahren mit dieser medizinischen Technologie und biete sie mittlerweile in meiner Praxis in Mainz an. Seit etwa fünf Jahren wenden wir EMG auch erfolgreich bei Mainz 05 an im Bereich Muskelverletzungen. Gerade im Leistungssport kommt es häufig zu Muskelverletzungen, aber in der Rehabilitation wird dann oft falsch trainiert.
EMG kann dabei helfen, solche Verletzungen deutlich zu minimieren, und kann außerdem die Entstehung muskulärer Dysbalancen verhindern. Zur essenziellen Nachsorge von Sportverletzungen gehört zuallererst ein grundlegendes Verständnis der Muskulatur; dieses bietet uns die EMG-Technologie. Vieles steckt hier noch in den Kinderschuhen, aber in Zukunft wird die EMG-Analyse sicherlich auch im Fitnessbereich breite Anwendung finden.
body LIFE: Gibt es neue praktische Ansätze hinsichtlich des effektivsten Trainings nach Verletzungen?
Dr. Philipp Appelmann: Es gibt eine Vielzahl an Studien, die sich mit unterschiedlichen Trainingsmethoden beschäftigen. In den letzten Jahren ging die Tendenz immer mehr in die Richtung, Verletzungen früh funktionell nachzubehandeln. Im Optimalfall wird dabei – je nach Verletzungsart – eine übungsstabile oder eine belastungsstabile Situation geschaffen, damit man gleich wieder mit der Bewegung beginnen kann. In Zukunft werden hier insbesondere technologische Bereiche wie die Elektromyographie, die Thermographie und Virtual Reality von Interesse sein.
Wichtig ist, für jeden Verletzten ein auf ihn zugeschnittenes Trainingsprogramm zu erarbeiten. Es sollte sich an der Sportart, dem Alter, dem Aktivitätsniveau und den Vorerkrankungen orientieren. Aus ärztlicher Sicht besteht die Aufgabe, OP- und Behandlungsmethoden zu finden, die den Heilungsprozess optimal unterstützen und die funktionelle Bewegung so früh wie möglich wieder erlauben.
Simon Roth: Genau das ist ein wichtiger Ansatz: früh funktionell wieder bewegen. Bei einem Knochenbruch z. B. lassen sich in den meisten Fällen die umliegenden Muskeln und Gelenke trotz der Verletzung trainieren. Auch die Rolle der Nerven darf nicht unterschätzt werden; eine Vernachlässigung ihres Trainings kann zu Schmerzen und Koordinationsproblemen führen. In diesem Zusammenhang ist die Propriozeption, also das Feedback der Rezeptoren im Kontext mit der gezielten Muskelansteuerung, besonders wichtig. Die Abstimmung zwischen Arzt oder Operateur, Therapeut und Trainer ist für eine effektive Nachsorge unabdingbar.
body LIFE: Wann ist eine Sportpause ratsam und wie lange sollte sie gegebenenfalls dauern?
Dr. Philipp Appelmann: Bei überlastungsbedingten Beschwerden ist eine Anpassung oder Reduktion der Trainingsintensität bzw. Modifikation des Trainings entscheidend. Kurzfristige Sportkarenz kann je nach Beschwerdebild sinnvoll sein, um den Patienten in einen schmerzfreien bzw. -armen Zustand zu versetzen.
Bei akuten Verletzungen oder nach Operationen stehen in der Entzündungsphase zunächst abschwellende Maßnahmen – physikalisch, medikamentös etc. –, Schonung und Entlastung im Vordergrund. Danach folgt eine passive und aktive Gelenkmobilisation. Eine Überlastung der Strukturen sollte auch in dieser Phase noch vermieden werden. Ab der dritten Woche kann dann eine angepasste, progrediente Belastung des Gewebes erfolerfolgen. Sobald die volle Belastbarkeit erreicht ist, kann mit der eigentlichen Rehaphase begonnen werden. Eine Rückkehr zum Sport ist bei größeren Verletzungen wie einer Kreuzbandruptur erst nach spezifischen Funktionstestungen bei annähernd seitengleicher Funktion der betroffenen Extremität sinnvoll.
Simon Roth: Gerade wenn bei bestimmten Sportverletzungen operiert werden musste, neigen Ärzte und Chirurgen häufig dazu, eine oft wochenlange Trainingspause anzuordnen. Wer allerdings zu lange gar nichts macht und sich überhaupt nicht bewegt, läuft Gefahr, dass sich die nicht betroffenen gesunden Muskelstrukturen abbauen. Schon vom Tag der Verletzung an sollten daher die gesunden Strukturen besonders gestärkt und stabilisiert werden; das ist für die Rehabilitation essenziell und unterstützend. Es geht darum, eine gezielte Belastungsprogression anzusteuern, nach dem Grundsatz: Nicht zu früh zu viel und nicht zu lange zu wenig!
body LIFE: Als wie wichtig erachten Sie Fitnessstudios und Physiotherapiepraxen für die Nachsorge von Sportverletzungen an?
Dr. Philipp Appelmann: Als essenziell, um eine zukünftige Ursache-Folge- Kette zu verhindern. Wichtig dabei sind natürlich die Fachkenntnis des Trainers über das jeweilige Krankheitsbild und die interdisziplinäre Kommunikation zwischen allen Beteiligten, also Arzt, Physiotherapeut, Trainer und Patient.
Simon Roth: Ich sehe Fitnessstudios vor allem im Bereich der Prävention ganz vorn. Den Trend Richtung Gesundheitsanbieter mit ganzheitlichem Training erachte ich als sehr vielversprechende Entwicklung sowohl wenn es um die Vorsorge als auch um die Nachsorge geht.
body LIFE: Was sollten Trainer wissen, wenn sie mit einem verletzten Kunden trainieren?
Dr. Philipp Appelmann: Grundlegende Kenntnisse über das Krankheitsbild sowie die Belastungs- und Trainingssteuerung sollten vorhanden sein. Bei Verletzungen ist eine Rücksprache mit dem behandelnden Arzt oder Physiotherapeuten immer sinnvoll. Auf die Reaktionen und Rückmeldungen des Kunden sollte geachtet werden. Auch hier gilt wiederum der Grundsatz: Nicht zu früh zu viel und nicht zu lange zu wenig!
Simon Roth: In Fortbildungen für Trainer passiert mittlerweile schon ziemlich viel, wenn es um das Thema „Sportverletzungen“ geht. Ich würde mir jedoch auch für die Ausbildung angehender Sportwissenschaftler wünschen, dass der Bereich Anatomie viel stärker in den Fokus rückt. Denn tiefergehende Kenntnisse hierin können später die Kommunikation mit Ärzten und Physiotherapeuten ungemein erleichtern. Solange die einzelnen Kooperationspartner nicht ihren Kompetenzbereich überschreiten, profitieren letzten Endes alle – nicht zuletzt auch der Patient – von der Interaktion.
body LIFE: Lohnt es sich für Trainer, beispielsweise einmal bei einem Orthopäden zu hospitieren?
Dr. Philipp Appelmann: Sinnvoll wäre so etwas auf jeden Fall. Denn Verletzungen, Schmerzarten und Beschwerden, die häufig auftreten, muss man gut kennen, um den Betroffenen beraten und anleiten zu können. Der richtige Umgang mit einer Sportverletzung ist etwas anderes als nur Muskulatur aufzubauen. Ohne anatomisch-orthopädisches Basiswissen können falsche Ratschläge oder Trainingsanweisungen den Heilungsprozess im schlimmsten Fall behindern. Sollte ein Fitnesstrainer allerdings über Grundkenntnisse des Krankheitsbildes verfügen, kann er in puncto Nachsorge und Rehabilitation eine wichtige Rolle spielen.
Simon Roth: Was sich in der Praxis häufig beobachten lässt, ist, dass viele Trainer die ein oder andere Fortbildung genossen haben und dann dazu neigen, Diagnosen zu stellen nach dem Motto: „Mein Kunde hat diese und jene Beschwerden, also muss es genau dieses oder jenes Krankheitsbild sein.“ Dieses Halbwissen sollte mit Vorsicht genossen werden. Denn die Diagnose liegt außerhalb des Kompetenzbereichs von Fitnesstrainern; sie sollte immer nur in Rücksprache mit einer medizinischen Instanz erfolgen, womit wir wieder beim Thema „Netzwerke und interdisziplinäre Kooperationen“ sind. Das Stellen einer falschen Diagnose kann den Kunden auch psychologisch belasten; ein Prozess, den man nicht unterschätzen darf. Ängste sind oft Treiber von Schmerzen. Das sollten auch Fitnessstudios beachten, die im Bereich Medical Fitness unterwegs sind.
body LIFE: Gibt es Ihrer Meinung nach in puncto Kooperationen noch „Luft nach oben“?
Dr. Philipp Appelmann: In meiner Tätigkeit als Arzt bzw. Operateur im Krankenhaus hat man leider nur sehr wenig Zeit und somit wenig Kontakt zu ambulanten Rehazentren und Fitnessstudios. Hier ist definitiv noch viel „Luft nach oben“. Zukünftig werde ich als niedergelassener Orthopäde mit sportmedizinischem Schwerpunkt und einem Team aus Physiotherapeuten und Sportwissenschaftlern versuchen, genau diese Lücke zu schließen. Als Mannschaftsarzt von Mainz 05 habe ich bereits jetzt das Glück, mit einem hervorragenden Team aus Ärzten, Physiotherapeuten, Athletik- und Fitnesstrainern zusammenzuarbeiten.
Simon Roth: In der niedergelassenen Praxis, in der ich arbeite, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit essenziell. In puncto Trainingssteuerung gilt es, regelmäßige Rücksprachen mit dem behandelnden Arzt zu halten. Der Heilungsprozess einer Verletzung verläuft immer individuell – mal schneller, mal langsamer. Es ist nie so, dass der Schmerzstatus des Patienten linear abnimmt, sondern hier gibt es Schwankungen; das ist ganz normal bei Sportverletzungen. An diese Schwankungen müssen dann das Training und die Belastungsintensität angepasst werden. Das Zusammenspiel von Arzt und Trainer bzw. Therapeut ist genauso wichtig wie die Aufklärung und Einbeziehung des Patienten. Meiner Meinung nach wird dieser edukative Moment in der täglichen Praxis häufig verpasst, hier ist also noch viel Spielraum für die Zukunft.
body LIFE: Vielen Dank für das Interview.
Foto: Dr. Philipp Appelmann; Simon Roth