Fallakte Knorpelschaden
Vier Maßnahmen für die Knorpelpolizei
Das Schlagwort „Digitalisierung“ schwebte lange wie ein Damoklesschwert über der Fitnessbranche. Der große Druck, auch tatsächlich in digitale Angebote zu investieren, fehlte jedoch lange Zeit – bis vor einem Jahr die Fitness- und Gesundheitsstudios coronabedingt schließen mussten und die Betreiber sich seither gezwungen sehen, neue Wege zu gehen, um zu überleben.
Der Mörder ist immer der Gärtner? Nun, diese Aussage mag vielleicht für viele klassische Krimis gelten – im aktuellen Fall unserer Detektivin Nici Mende, die einem ganz speziellen „Verbrechen“ auf den Grund geht, ist die Sache etwas komplizierter. Denn beim Tatbestand des Knorpelschadens gibt es nicht den einen Bösewicht; vielmehr ist es eine Kombination aus mehreren Delikten, denen mit verschiedenen Maßnahmen vorgebeugt werden kann.
Mit dem Erwachsenwerden endet die Knorpelvermehrung und fortan gelingt keine körpereigene Regeneration verletzter Knorpelstrukturen. Als Resultat irreparabler Schäden des Gelenkknorpels stellt sich Arthrose ein. Es ist zwar mittlerweile möglich, Knorpelzellen zu züchten und sogar Knorpel zu regenerieren, nur eben leider nicht ohne operative Eingriffe und meist nur von geringerer Qualität. Die Frage ist: Muss es erst zu solchen Schäden kommen? Wäre es nicht sinnvoll, präventiv der Degeneration des Gewebes entgegenzuwirken? Mein Beispiel folgt dem Prinzip der Polizei zur Verbrechensbekämpfung. Wo wir doch Krimis so lieben, nutzen wir dies für unsere Zwecke, dem Knorpeldiebstahl entgegenzutreten.
1. Maßnahme: Aufklärung
„Halten Sie die Augen offen und Sie erkennen den Feind!“ Starten wir mit einer Übung. Öffnen Sie die Augen so weit es geht und halten Sie Ihren Blick ca. eine Minute starr auf einem Punkt. Vermeiden Sie das Blinzeln. Fertig? Nun frage ich: War es blinzelfrei möglich? Wahrscheinlich nicht, mehr noch, das Gefühl ist sicherlich ein Missempfinden und sogar sehr unangenehm gewesen, richtig? So würden sich wohl die Gelenkknorpel unseres Körpers fühlen, wenn sie stundenlang unbewegt verharren müssten, weil wir sitzen oder monotonen Arbeitsabläufen nachgehen. Die Versorgung mit Feuchtigkeit unterbleibt, der Nährstoffaustausch versiegt, die Substanz des Knorpels wird anfällig und baut sich ab. Dies beschreibt einen degenerativen Prozess in diesem kollagenhaltigen Gewebe mit wasserbindenden Zucker-Eiweiß- Bausteinen (Proteoglykanen).
Knorpelmatrix
Es ist nicht überraschend, dass sich Knorpelmasse aus ähnlichen Bausteinen wie Fasziengewebe zusammensetzt. Ein Kollagenfasernetz und eine wasserbindende Grundsubstanz (Proteoglykane) sorgen für die eher feste, druckverteilende Beschaffenheit des Knorpels. Diese Matrix (EZM = extrazelluläre Matrix) umschließt nur die Knorpelzellen (Chondrozyten und Chondroblasten). Gefäße finden sich hier nicht, somit ist diese Struktur nicht durchblutet und die Knorpelernährung muss über die Gelenkflüssigkeit (Synovia) stattfinden. Bei Unterversorgung neigt die Struktur zu frühzeitiger Kalkeinlagerung. Dieses Prinzip lässt sich mit einer feinporigen, eher festen Flipflopsohle schnell nachvollziehen. Stellen Sie sich mit Flipflops an den Füßen ins Wasser und bewegen nur einen Fuß.
Beweisstück Nummer 1: Der bewegte Flipflop wird sich mit Wasser vollsaugen; der belastete, unKnorpelbewegte weist trockene Stellen auf. Lassen Sie die Sandalen auf dem Wasser treiben, werden sie kaum Wasser aufnehmen. Stellen Sie sie in die Sonne, wird das Material porös. Tragen Sie sie in chlor- oder sehr salzhaltigem Wasser, leidet das Material. Etwas plakativ, aber so einfach erklärt sich der Knorpel und seine Nährstoffsynthese. Pressen wir den Knorpel zu stark und zu lange, zu einseitig oder entziehen oder verfälschen sein Milieu, verkalkt das Gewebe und reibt sich ab. Das bedeutet: Sowohl unsere Ernährung als auch das tägliche Bewegungskonzept und das aus beiden Faktoren resultierende Körpergewicht beeinflussen unsere Knorpelgesundheit.
Aktenvermerk: Hohes Körpergewicht und dauerhaft hohe Druck- und Scherbelastungen führen ebenso zu Knorpelschäden wie traumatische Verletzungen, schlechte Regeneration und ungesunde Nahrungsaufnahme.
2. Maßnahme: Prävention
„Lassen Sie Ihren Knorpel nicht unbewegt und achten Sie auf die gesunde Wasser- und Nährstoffzufuhr!“ So könnte die Durchsage lauten. Die Belastungs- oder besser Austauschphasen brauchen laut derzeitiger Studienlage keinen Sport, denn die Durchfeuchtung im Gelenkspalt bedarf nur einer kurzen Auflockerung mehrmals in der Stunde. Um jedoch die Führung des Gelenks funktionell zu erhalten, empfiehlt sich ein Training – gern auch mit Gewicht und guter Gelenkführung. Ein gut angesteuerter Muskel komprimiert den Gelenkspalt; eine Tatsache, die manche Menschen an einer Gelenkentlastung zweifeln lässt. Diese Führung optimiert aber den gesunden Lauf der Gelenkflächen und minimiert knorpelbelastende Drucklagerungen. Im Ruhezustand hat das Gewebe dann Zeit, sich ausreichend zu ernähren – ein wichtiger Aspekt, denn die angemessenen Ruhephasen sind in Kombination mit einer guten Nährstoffzufuhr das Kleinod des Knorpels. Aktenvermerk: Funktionelles Training beinhaltet auch die Berücksichtigung der ausgeglichenen Be- und Entlastungsphasen der körperlichen Strukturen! Wir können ein wirklich buntes Potpourri an Trainingsmöglichkeiten anbieten, denn solange der Knorpel abwechslungsreich und moderat bewegt wird, wir uns gesund ernähren, ausreichend Wasser trinken und unsere Schlaf- und Regenerationsphasen einhalten, fühlt sich das Gewebe pudelwohl. Er verzeiht so manche Schock- und Scherbewegung, wenn nicht gerade eine genetische Disposition, Medikation oder Erkrankung (z. B. chronische Entzündungen, Traumata) die druckverteilende Knorpelbeschaffenheit stört.
Die Frage, ob es knorpelfreundliche Sportarten gibt, möchte ich andersherum stellen. Beweisstück Nummer 2: Wettkampfsport, egal welcher Art, ist sicherlich ein Knorpelräuber – nicht allein wegen der sportartspezifischen Dauerbelastung und möglicher externer Einflüsse, sondern weil wir alles, was wir gern tun, meist zu häufig tun. Der Spitzensport verfügt anders als der deutlich mehr Personen betreffende Breitensport über perfekt ausgebildete Trainer. Hier wird alles überwacht, Ernährung, Regeneration etc., aber wie lang war der Weg des Sportlers bis hierhin? Hören wir auf zu trainieren, wenn es wehtut?
3. Maßnahme: Wachsamkeit
Nicht nur im Spitzensport lautet die Antwort: „Nein, jetzt erst recht!“ Anlaufschmerz oder Überlastungsund später Ruheschmerz könnten hier als „Blaulicht“ der Knorpelpolizei gesehen werden – ein Signal, der überhandnehmenden Monotonie etwas wachsamer entgegenzutreten. Diese Warnung gilt nicht nur im Sport, sie zeigt sich auch auf der Waage. Denn wie gesagt, was wir gern tun, tun wir häufig zu viel. Das gilt auch für Faulenzen und Essen.
Beweisstück Nummer 3: Beim Körpergewicht sollten wir unterscheiden, ob es sich um Muskelzuwachs oder einen Überhang von Körperfett handelt, der den Gelenkschutz herausfordert. Der Stoffwechsel spielt hier eine ebenso große Rolle wie die muskuläre Führung. Wie sonst erklärt sich z. B. eine Polyarthritis – also ein entzündlicher Knorpelschwund an unbelasteten Gelenken? Sport vor allen Dingen im körpertragenden Bereich hemmt Entzündungen. Nicht nur die positive ganzkörperliche Wirkung (Myokinregulation) spricht für Sport, auch im Gelenk selbst findet ein Abbau entzündungsfördernder Stoffe statt.1 Die moderat belastenden Bewegungen ermöglichen zudem einen besseren Transport des Proteinmarkers COMP, der frühzeitig eine Knorpelfluktuation nachweisen kann, hierzu aber aus der Gelenkflüssigkeit in das Blut gelangen muss. Da wären wir wieder bei unseren Flipflops; ohne ausreichende Belastung kein Wasseraustausch. Ohne Laufeinheit keine Bewegung des COMP aus der Synovia in das Serum. Bei Schmerzen sollten wir dementsprechend unseren Kunden frühzeitig die medizinische Diagnostik nahelegen, denn ein Blutbild kann frühzeitig auf Knorpelverlust hinweisen.
Aktenvermerk: Moderates Training (in der Schwerkraft) wirkt vorzeitigem Knorpelabbau entgegen. Regelmäßige Re-Checks und Befundabfragen (Blutbild bei wiederkehrenden Gelenkschmerzen) ermöglichen frühzeitige knorpelschützende Maßnahmen.
4. Maßnahme: Rehabilitation
Der Knorpel, der nachweislich keine Schmerzrezeptoren besitzt, wird keinen Schmerz melden, kann aber dennoch Auslöser sein. Ist er verletzt, reagiert er mit vermehrter Ausschüttung des genannten Biomarkers COMP.
Beweisstück Nummer 4: COMP kann quasi als Zeuge des Raubs gesehen werden. Die Beweislast ist hier ein bisschen schwierig, denn die COMP-Analyse deutet auf einen Abbau hin. So kommen Kraftund Laufsportarten pauschal in den Verruf, Knorpelräuber zu sein. Schaut man genau, sind dies Sportarten, die das COMP durch Druckbelastung in das Serum transportieren.2 Mitunter also eine Falschaussage, denn der Wert könnte im Gelenk niedrig bis moderat, aber im Serum hoch sein. Egal, wie wir es betrachten, es wäre besser, keine Zeugenbefragung durchführen zu müssen. Fakt: Die Qualität der Technik und die übliche Dosis machen das Gift.
Aktenvermerk: Wird der Knorpelschaden zu groß, reagiert das Milieu um ihn herum und beginnt sich entzündlich zu verändern. Spätestens jetzt setzt sich eine degenerative Reaktionskette in Gang, die dringend eines Notrufs bedarf. Der Tatbestand, dass sich das gelenkumspannende Gewebe verdichtet, die entzündlichen Prozesse voranschreiten, der Knorpel weiter verkalkt und mechanisch abgerieben wird, stört mit zermürbenden Schmerzen und schreit nach Handlungsbedarf.
Opferschutz-Training
Hier hilft es, je nach Fortschritt der Einschränkung das Gelenk unter externer Zuglast, also einem Auseinanderziehen des Gelenks (Distraktion), zu trainieren. Für diese Form des Trainings beginnen Sie mit feinen Pendelbewegungen in Richtung der Schwerkraft. Später kann der Zug progressiv mit einem Zusatzgewicht erhöht werden. Ein Beispiel bei Knieabnutzung: freies Pendeln des Unterschenkels mit einem Skischuh oder Gewicht am Fuß. Die Positionen können stehend auf einem Block (zum Beispiel einer Treppenstufe) und sitzend auf einem Tisch sein. Diese Maßnahmen fördern den Stoffwechsel der Strukturen und entlasten den Knorpel während der Übungszeit. Mit Distraktion durch externe Gelenkführung über ein Jahr konnten Forscher übrigens tatsächlich neuen Knorpel „züchten“.
Anders, aber auch schmerzlindernd wirkt die freie, rein konzentrische Bewegung im Wasser. Hier können die Gelenkpartner ohne Schwerkrafteinwirkung getragen und frei bewegt werden. Wahrnehmung, Ansteuerung und Stoffwechsel sind gerade bei Übergewicht in diesem Terrain gut zu trainieren. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass wir unser alltägliches Leben an Land bestreiten und somit die Schwerkraft im Training ebenfalls beachten sollten. Dieser Parameter fehlt im Wasser ebenso wie auf dem Rad. Damit fehlt auch die exzentrische Belastung und der eigentlich wichtige Druckparameter zur Knorpelversorgung. Dies gilt es spätestens in der alltagsorientierten Therapiephase zu schulen. Hierzu ist die sensomotorische Ansteuerung für eine feinabgestimmte Führung im verschleißbelasteten Gelenk besonders wichtig. Durch die fehlende Puffermasse steigt die übermäßige, aber unfunktionelle Mobilität des Gelenks und die Knorpelbelastung wächst.
Aktenvermerk: Je fortgeschrittener der Knorpelabbau, desto mehr feinmotorische muskuläre Führung und Stoffwechselförderung benötigt das Gelenk.
Schadensvermeidung
Da sich bis heute zu wenig Rekruten der Knorpelpolizei zugehörig fühlen, appelliere ich an Sie, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und die Knorpelgesundheit rechtzeitig zu fördern. Betreiben wir Schadensbegrenzung von morgen einfach schon heute, entlarven die individuellen Räuber vor allen Dingen im sich wiederholenden Alltag und motivieren zu abwechslungsreichen und funktionell hochwertigen Trainingseinheiten. So wird es deutlich weniger Fallakten geben, die sich mit Knorpelschäden befassen müssen.
Nici Mende
Nici Mende ist TÜV-zertifizierte Personal Trainerin, Dipl.-Trainerin med. Fitness und Adv. Trainerin Fascial Fitness. Sie arbeitet als Ausbilderin u. a. beim GluckerKolleg, hat mehrere Konzepte entwickelt und ist neben ihrer Tätigkeit als Trainerin als Fachautorin tätig. www.fascial-coach.de
Foto: fergregory – stock.adobe.com , crevis – stock.adobe.com; Nici Mende