Künstliche Gelenke
Optimale Vor- und Nachsorge bei Gelenkersatz
Was können Betroffene vor und nach einer Operation tun, um mit künstlichen Gelenken möglichst schnell wieder fit zu werden? Wie sieht eine gute Vorbereitung auf die Operation aus und wie können anschließend die Rehabilitation und das Training effektiv und effizient gestaltet werden?
Man hört und liest zurzeit oft davon, dass in Deutschland zu schnell und zu häufig operiert werde, wenn es um künstlichen Gelenkersatz geht. Bei solchen Aussagen sollten jedoch die Zahlen und Fakten genau betrachtet werden. Unter anderem spielt auch die Altersstruktur der miteinander verglichenen Länder eine entscheidende Rolle, denn die häufigste Ursache für das Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks ist Hüftarthrose, die mit zunehmendem Alter auftritt.
In Deutschland bekommen pro Jahr ca. 240 000 Menschen eine Hüft-TEP. Das Kürzel TEP steht für Totalendoprothese, also einen Gelenkersatz. Der zweithäufigste Grund für einen Hüftgelenkersatz ist ein Oberschenkelhalsbruch. Das Risiko zu stürzen und sich dabei einen Oberschenkelhalsbruch zuzuziehen, nimmt ebenfalls mit fortschreitendem Alter zu. Schaut man sich Zahlen zum Kniegelenkersatz an, wurden im Jahr 2019 deutschlandweit 193 759 künstliche Kniegelenke implantiert. Der Großteil der Betroffenen war zwischen 75 und 80 Jahre alt; jünger als 30 Jahre waren immerhin 119 Personen. Generell und gerade bezogen auf jüngere Patienten besteht ein Problem darin, dass ein präoperatives Training zur Vorbereitung nicht erfolgt. Erst nach der Operation beginnt in der Rehabilitation das Training mit dem neuen Gelenk. Dabei kann auch präoperativ schon etwas getan werden, um die zukünftige Beweglichkeit nach dem Einsatz eines künstlichen Gelenks zu verbessern.
Präoperativ auf neurozentriertes Training setzen
„Vor der Operation kann man Patienten schon vorbereiten – unter anderem mit neurozentriertem Training, um die sensomotorischen Fähigkeiten zu verbessern, denn auch eine Arthrose verändert die Sensomotorik“, sagt Dr. med. Veit Nordmeyer, Oberarzt der Klinischen Abteilung für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Tulln, Österreich. Abhängig von den Schmerzen sollte vor der Operation der Fokus auf der Kräftigung und Beweglichkeit liegen. Empfehlenswert ist beispielsweise isometrisches Training. Außerdem kann sensomotorisches Training eine optimale OP-Vorbereitung unterstützen. Sensorischer Input ist sehr wichtig für das Gehirn, um eine zielgerichtete, koordinierte und effektive Bewegung zu planen und auszuführen. Das Gehirn muss wissen, wo sich beispielsweise das Bein und die Hüfte im Raum befinden, um danach einen Bewegungsplan zu erstellen, der dann das stabile Auftreten ermöglicht.
Präoperatives Training sorgt vermutlich für bessere Abbildungen im sensomotorischen Cortex. So kann durch ein Kraft- und Stabilitätstraining bereits vor der OP positiv auf den Regenerations- und Rehabilitationsprozess eingewirkt werden. Kurz: Alles, was zuvor an Training gemacht wird, hilft den Betroffenen, nach der OP wieder schneller ihre körperliche Aktivität wiederzuerlangen und belastbar zu werden. Auch die Art und Weise der Operation spielt eine Rolle. „Die Auswahl der OP-Technik, zum Beispiel mit einer minimalinvasiven Hüft-TEP, welche zunehmend Verwendung findet, ist ein entscheidender Faktor“, weiß Nordmeyer. „Hier sollte man gemeinsam mit dem operierenden Arzt die optimale Lösung finden“, rät der Spezialist für Orthopädie und Unfallchirurgie. Gerade das Mitspracherecht des Patienten sowie eine gemeinsame Entscheidungsfindung für die Operation und das Therapiekonzept sind ausschlaggebend für das Verhältnis von Arzt und Patient. Von der Aufklärung über die Motivation bis zur aktiven Mitgestaltung kann hier noch viel Potenzial genutzt werden, damit der Patient optimal vorbereitet ist.
Postoperative Rehabilitation
Neurozentriertes Training spielt nicht nur präoperativ, sondern besonders nach der Operation eine wichtige Rolle, um sich mit einem künstlichen Gelenk gut zu bewegen. „Die Rehabilitation ist ein weiterer Faktor – auch hier kann der neurozentrierte Ansatz bei kompetenter Integration Vorteile für eine raschere Regeneration bieten“, so Nordmeyer. Die Mediziner und das Reha-Team entscheiden dabei gemeinsam, welche therapeutischen Maßnahmen individuell notwendig sind. Es ist wichtig, immer ärztlich und therapeutisch angeleitet zu arbeiten und nicht basierend auf dem eigenen Körpergefühl oder einer wagen Einschätzung eines Trainers zu trainieren. Die betreuenden Experten geben aber an, in welchem Tempo die Rehabilitation und das Training möglich sind.
Entscheidend dabei: Ohne eine präzise Verarbeitung der sensorischen Reize werden Betroffene nicht in der Lage sein, eine Bewegung kontrolliert und sicher durchzuführen. Deshalb ist neben der klassischen Rehabilitation auch das sensomotorische Training ein wichtiger Baustein des Trainings. Das sensomotorische Training erfolgt im Nervensystem auf Ebene der Rezeptoren. Mechanorezeptoren sind z. B. Zellen, die der Wahrnehmung mechanischer Reize dienen wie Muskellänge und -spannung oder Gelenkstellungen und -bewegungen. Auch Thermorezeptoren verarbeiten mechanische, physikalische oder chemische Reize. Ein einfacher Ansatz, um auf der Ebene solcher Rezeptoren Trainingsimpulse zu setzen, die die Sensomotorik verbessern, ist z. B. das Herausfinden von vorhandenen Sensibilitätsstörungen. Wie fühlt sich der operierte Bereich für den Patienten an? Wo sind Taubheitsgefühle und gibt es erkennbare Unterschiede, wenn der Patient die gesunde und die operierte Seite bewusst miteinander vergleicht? Zudem bedarf es auch einer Narbenbehandlung.
Sensibilitätsstörungen
Nach der OP klagen viele Betroffene über ein gestörtes Gefühlsempfinden um den operierten Bereich herum. Bei jeder Operation werden Muskeln und Nerven beschädigt, ob nun durch das Skalpell, durch Haken oder durch den Elektrokauter, das Gerät, das zur Blutstillung eingesetzt wird. Das kann dazu führen, dass Muskeln nicht gut angesteuert werden können. Dementsprechend fehlt es an Kraft und Stabilität. Um die unterschiedlichen Rezeptoren ins beTraining der Patienten einzubinden, kann man mit folgenden Reizen arbeiten:
- leichter Berührung,
- Druck,
- Dehnung der Haut,
- Vibration,
- Wärme,
- Kälte und/oder
- Spitz- und Dumpfdifferenzierung.
Sind um das OP-Gebiet und die Narbe oder Drainage herum noch Missempfindungen vorhanden, gilt es, die richtige Dosierung für die genannten Reize zu finden. Vibrationen können für den einen sehr angenehm sein, ein anderer kann sie als sehr unangenehm wahrnehmen. Sowohl die Reizintensität und -dauer als auch eine Kombination können getestet werden. Dabei macht es Sinn, mit dem sensorischen Training nicht direkt an den am stärksten betroffenen Körperregionen zu beginnen. Stattdessen kann man sich erst einmal auf die weniger stark betroffenen Regionen im Dermatomverlauf konzentrieren, also dem Hautbereich, der von den sensiblen Fasern der betroffenen Spinalnervenwurzel autonom versorgt wird, oder dem Einzugsgebiet der peripheren Nerven.
Nervenmobilisation
Eine weitere Option sind indirekte Techniken in Form von neuromechanischen Übungen. Dazu gehören die Mobilisation von Nerven, Nervenentlastungen und Nervengleitbewegungen, also das abwechselnde Annähern und Entfernen von Nervenursprung und -ende, auch bekannt unter dem Begriff „Neuroflossing“. Dabei geht es nicht um klassische Dehnübungen für den Muskel, sondern um niedrigschwellig Bewegungen, bei denen eine ganz leichte Dehnung aufgebaut wird, die dann aber über die Mobilisierung der betroffenen Gelenke in Anspannung und Entspannung geführt wird. Ziel ist also nicht die intensive Dehnung, sondern die Mobilisierung vom Austritt der peripheren Nerven am Spinalkanal bis zu den Nervenenden. So können – ausgehend von der Lendenwirbelsäule bis zum großen Zeh – Nerven mobilisiert werden durch Mobilisierung der Lendenwirbelsäule, des Beckens oder der Hüfte, des Knies und des Sprunggelenks.
Isometrische Anspannung
Unter Isometrie versteht man im Zusammenhang mit Übungen, dass der Muskel die Ausdehnung in der Länge beibehält. Das bedeutet, dass der Muskel angespannt wird und dann in der Anspannung gehalten wir, ohne dass eine Bewegung in den Gelenken erfolgt. Idealerweise erreicht man damit eine maximale Muskelspannung. Es handelt sich dabei also um statische Übungen. Damit geht es statt um Gewicht und Wiederholungen um die Steigerung der Dauer der Muskelanspannung.
Isometrische Übungen haben den großen Vorteil, dass sie überall und jederzeit durchgeführt werden können. Außerdem kann damit die Komplexität der Übungen reduziert und das Verletzungsrisiko für den Patienten minimiert werden. Je nach operiertem Gebiet kann das betroffene Gelenk erst einmal ausgespart und nur oberhalb und unterhalb mit der isometrischen Anspannung begonnen werden. Je nach Schmerzindikation kann dann nach und nach das betroffene Gelenk ins Training eingebunden werden.
Eine gute Übung für das Training von künstlichen Kniegelenken ist z. B., im Sitzen die Fußsohlen auf den Boden zu drücken und gleichzeitig mit einem Kissen zwischen den Knien das Kissen maximal zusammenzudrücken. Anschließend kann in einer weiteren Übung ein elastisches Band um die Knie gelegt werden, die dann gegen den Widerstand des Bandes nach außen gedrückt werden. Auf diese Weise wird die isometrische Spannung gehalten. Dabei können Schritt für Schritt Parameter wie der Bewegungsumfang, die Geschwindigkeit, die Schrittposition und der Widerstand variiert werden. Sukzessive wird dann das Krafttraining intensiviert, um die vollständige Alltagstauglichkeit wiederherzustellen. Dabei kann anfangs gerätegestützt gearbeitet werden, um die Komplexität zu reduzieren und gleichzeitig geführte und dadurch sichere Bewegungen zu ermöglichen. Langfristig sollte das Ziel sein, alltagsrelevante dreidimensionale Bewegungen ausführen zu können. Dafür können funktionellere Trainingsmethoden sinnvoll sein.
Aktueller Status quo
Schaut man auf den aktuellen Katalog der evidenzbasierten Therapiemodule der Deutschen Rentenversicherung, werden mittlerweile zahlreiche Angebote offeriert: Sie reichen von Bewegungstherapien, Alltagstraining, funktionelle und arbeitsweltbezogene Therapien über Physikalische Therapie und krankheitsspezifische Patientenschulungen bis hin zu psychologischer Unterstützung, Entspannungsverfahren und Leistungen zur sozialen und beruflichen Integration. Das ist eine gute Entwicklung,denn gerade für die Therapie nach dem Einsatz eines künstlichen Gelenks ist ein ganzheitlicher Ansatz wichtig.
In Deutschland hat sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahren einiges getan, wenn auch oftmals nur in Pilotprojekten. Nichtsdestotrotz gibt es neue Ansätze von verhaltensmedizinischen oder berufsbezogenen Konzepten, wie z. B. die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (MBOR), die verhaltensmedizinisch orientierte Rehabilitation (VOR) und die verhaltensmedizinisch orthopädische Rehabilitation (VMO). So werden beispielsweise die Therapiestandards in der Rehabilitation in regelmäßigen Zyklen überarbeitet und dem aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand angepasst. Was in der Therapie als Standard bereits angekommen ist, gilt es ins Training noch einzubinden. Hier ist besonders im Personal Training noch viel Potenzial.
Fazit
In Zukunft sollte vor allem die Schnittstelle zwischen Therapie und Training noch ausgebaut werden. Die individuelle Ansprache und Motivation über die Rehabilitationsmaßnahmen hinaus kann noch optimiert werden. Dabei gibt es weiteren Optimierungsbedarf bezogen auf eine multiprofessionelle Abstimmung der Trainingsinhalte, mehr Alltagsrelevanz und situative Trainingsimpulse, die Individualisierung der Trainingsplanung sowie der Ausbau von digitalen Trainingsangeboten für Patienten mit künstlichen Gelenken. Dabei ist es entscheidend, das neue Gelenk als Teil des eigenen Körpers zu akzeptieren und es schnellstmöglich zu integrieren – über die Sensorik, über die Motorik und über das individuelle emotionale Empfinden.
Luise Walther
Dr. med. Veit Nordmeyer, MBA
ist Oberarzt in der klinischen Abteilung für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Tulln, Österreich. Er ist Spezialist für Orthopädie und setzt auf eine ganzheitliche Betrachtung und interdisziplinäre Arbeitsweise, um Patienten zu helfen, schnell und zielgerichtet ihre körperliche Aktivität und Belastbarkeit wiederherzustellen.
Luise Walther
Mit ihrem neurozentrierten Training sorgt Luise Walther für Aufsehen in der Gesundheits- und Fitnessbranche. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Trainingsprozessen, um Schmerzen zu reduzieren und Bewegungsabläufe zu optimieren. Die Spezialistin für Rehabilitation, Verletzungsprophylaxe und Performance- Steigerung stellt die ganzheitliche Betrachtung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den Vordergrund. Die zentrale Grundlage ihrer neuroathletischen Arbeit ist die Erkenntnis, dass Schmerzen im Gehirn entstehen.
www.luisewalther.de
Foto: peopleimages.com – stock.adobe.com