Leistungsbooster Mikrobiom
Stuhldoping mit Athleten-Bakterien
Die Bakterienvielfalt in unserem Darm unterstützt die Verwertung von Nährstoffen, vereitelt die Verbreitung von Krankheitserregern und reguliert Entzündungen. Doch neue, bahnbrechende Erkenntnisse zeigen: Bakterien entscheiden auch über die sportliche Leistungsfähigkeit!
Der Wissenschaftler Jonathan Scheiman von der Harvard Medical School fuhr 2015 durch Boston und sammelte vor dem Boston-Marathon von den Läufern Stuhlproben ein. Nach dem 42 Kilometer langen Event bat der Molekularbiologe die ausgewählten Läufer um eine weitere Stuhlprobe. Anschließend verglich er den Stuhl der Marathonläufer mit dem von Nichtläufern. Sowohl die Marathonläufer als auch die Inaktiven waren Probanden eines äußerst unkonventionellen Feldversuchs: Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der kausale Zusammenhang zwischen dem Darmmikrobiom und der sportlichen Leistungsfähigkeit entschlüsselt.
Spezieller Bakterienstamm
Die Analysen der Arbeitsgruppe von Jonathan Scheiman zeigten, dass zahlreiche Bakterien des Veillonella-Stamms den Verdauungstrakt der Marathonläufer besiedelten. Nach dem Lauf stieg die Menge dieser Bakterien sogar über mehrere Tage an. Als das Forscherteam diesen Stamm anschließend isolierte und Mäusen über eine Stuhltransplantation verabreichte, rannten die sogenannten Veillonella-Mäuse um 13 Prozent länger im Hamsterrad als ihre Artgenossen, die das Kontrollbakterium Lactobacillus bulgaricus bekommen hatten. Die Ergebnisse der Studien schlugen seinerzeit international hohe Wellen und führten zur neuen Wortschöpfung „Stuhldoping“¹.
Die Gattung Veillonella ist dadurch charakterisiert, dass sie sich von Laktat ernährt. Laktat ist ein Stoffwechselprodukt der anaeroben Glykolyse, das während eines Marathons bei Intensitäten oberhalb der aeroben Schwelle in den kontrahierenden Muskelzellen produziert wird. Über den Shuttle-Service der Monocarboxylat-Transporter-4 wird Laktat aus dem Muskel geschleust und ein Teil in den Darm ausgeschieden². Dort begünstigt es die Vermehrung der einzigartigen Bakteriengattung Veillonella. Das Besondere dabei: Veillonella baut das in den Darm ausgeleitete Laktat in Propionat und Acetat um. Beides sind kurzkettige Fettsäuren (Ketone), die aus dem Darmlumen wieder ins Körperinnere gelangen und im Blutkreislauf ein wichtiger Energieträger für zum Beispiel Muskulatur und Gehirn sein können.
Dieser Mechanismus ist während eines Marathonlaufs äußerst vorteilhaft: Während die Muskulatur unter Belastung eine hohe energetische Priorität genießt, müssen auch andere stoffwechselaktive Organe ausreichend mit Energieträgern versorgt werden. Die US-Forscher vermuten hier einen symbiotischen Effekt zwischen Athlet und Veillonella-Bakterien: Der höhere Laktatgehalt im Darm fördert das Wachstum dieser Bakterienart. Im Gegenzug profitieren Athleten von kurzkettigen Fettsäuren, die wertvolle Energie liefern².
Komplexes Ökosystem
Unser Mikrobiom ist verblüffend komplex. Es wird nicht nur durch Sport, sondern auch durch zahlreiche andere intrinsische und extrinsische Faktoren beeinflusst und ist dadurch so individuell wie ein Fingerabdruck. Wer über den vaginalen Geburtskanal zur Welt kommt, wird beispielsweise schon früh im Leben mit einer großen Vielfalt an mikrobiellen Organismen beschenkt. Weiterhin entscheiden auch die frühkindliche Ernährung (Brust- oder Flaschenkind), das Zusammenleben mit Haustieren, die Anzahl verabreichter Antibiotika und Umweltgifte über die bakterielle Zusammensetzung des Verdauungstraktes.
Ein artenarmes Mikrobiom steht mit einer wachsenden Zahl von Erkrankungen im engen Zusammenhang, denn gesunde Menschen zeigen in Studien eine erhöhte Artenvielfalt von Mikroorganismen. Interessanterweise ist die Bakterienvielfalt bei Sportlern allerdings noch größer. Das konnte die Mikrobiom-Forscherin Siobhan Clarke zeigen, die bei professionellen Rugby-Spielern eine höhere Anzahl von Bakterienspezies (alpha- Diversität) ermittelte als bei gesunden Nichtsportlern³. Für die hohe mikrobielle Varianz der Rugby-Mannschaft wurden ein hoher Proteinkonsum und intensive Trainingseinheiten verantwortlich gemacht.
In jedem Ökosystem, einschließlich dem des Darmmikrobioms, existiert ein Wettbewerb um Nährstoffe und Ressourcen. Die Nahrungsmittel, die wir aufnehmen, formen unser Mikrobiom. Während eine ausgewogene Ernährung mit reichlich Ballaststoffen und fermentierten Lebensmitteln die Artenvielfalt der Darmbakterien fördert, entstehen durch körperliches Training Stoffwechselprodukte wie zum Beispiel Laktat, die metabolische Nischen bilden und Lebensräume für neue Bakterien schaffen. Das körpereigene Ökosystem wird also – wie vieles im menschlichen Organismus – multifaktoriell reguliert.
Bakterium als BCAA-Produzent
Inzwischen werden eine Vielzahl von nahrungsergänzenden Darmbakterien (Probiotika) auf dem freien Markt vertrieben – 2018 lag der Umsatz von Probiotika in Deutschland bei 152 Millionen Euro. In der Sport- und Fitnessbranche fristen Probiotika allerdings noch ein stiefmütterliches Dasein. Die verzweigtkettigen Aminosäuren (BCAA) Valin, Leucin und Isoleucin genießen aufgrund ihrer anabolen Wirkung eine wesentlich größere Popularität. In Kapseln oder als Pulver vertrieben, stimulieren die drei Aminosäuren die Muskelproteinsynthese und generieren ein anaboles Hormonmilieu. Unserem Körper fehlt der Mechanismus zur Eigensynthese der BCAA (Branched Chain Amino Acids), sodass eine Substitution über Nahrungsergänzungsmittel insbesondere im Leistungssport physiologisch gerechtfertigt sein kann.
Aber wie werden eigentlich die verzweigtkettigen Aminosäuren hergestellt? Ein Blick in die Biotechnologie zeigt, dass die drei Aminosäuren meistens durch Fermentation mithilfe von Mikroorganismen produziert werden³. Bemerkenswerterweise besiedeln BCAA-produzierende Mikroorganismen auch unseren Darm – zumindest dann, wenn wir uns häufig bewegen.
Bakteriengattung von Radfahrern
2017 charakterisierte die Genomwissenschaftlerin Lauren Petersen das Darmmikrobiom von Radfahrern. Je häufiger die Radfahrer trainierten, desto zahlreicher war die Bakteriengattung Prevotella vorzufinden. Diese Darmbewohner synthetisieren im Gegensatz zum menschlichen Organismus die essenziellen BCAA selbst. Freizeit- und Leistungssportler könnten von dieser uneigennützigen Bakterieneigenschaft in vielerlei Hinsicht profitieren: Neben dem Einfluss auf das Muskelwachstum reduzieren sie nachweislich die zentralnervöse Ermüdung und verringern belastungsinduzierte Muskelschäden im Ausdauersport⁵. Ob die BCAA-Synthese von Darmbakterien einen Teil des täglichen Proteinbedarfs decken kann – und falls ja, in welcher Menge –, bleibt vorerst offen. Die Darmmikrobiom-Forschung ist noch relativ jung. Aus diesem Grund hat das Leibnitz-Institut DSMZ eine frei zugängliche Bakteriendatenbank erstellt, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Mikroorganismen zu vergrößern. Mittlerweile wissen wir, dass Darmbakterien nicht nur BCAA synthetisieren können, sondern auch die Vitamine B1, B2, B5, B6, Folat sowie die Vitamine B12 und K2 – und vermutlich auch einen nutritiven Beitrag zur Versorgung mit diesen Vitalstoffen leisten.
Quintessenz
Um eine optimale Leistungsfähigkeit zu erzielen, sollten Athleten ihren gesamten Organismus einschließlich ihres Darmmikrobioms durch regelmäßiges Training und eine ausgewogene Ernährung hegen und pflegen. Der aktuelle Stand der Wissenschaft deutet darauf hin, dass Darmbakterien über die Produktion von kurzkettigen Fettsäuren und die Synthese essenzieller Aminosäuren Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit nehmen. Der größte Mikrobiomregulator bleibt die tägliche Ernährung, sodass die Zufuhr von Ballaststoffen – das Futter für Mikroorganismen – eine hohe Priorität einnimmt. Ob prä- und probiotische Präparate messbaren Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit nehmen können, ist bei Athleten noch unzureichend erforscht. Eines steht allerdings fest: Unser hochdynamisches und individuelles Ökosystem im Darm ist wirkungsvoller, als wir denken!
Dr. Jens Freese & Pascal Bujor
Dr. Jens Freese ist Master of Science Clinical Neuroimmunology, Diplom-Sportwissenschaftler sowie Leiter der Dr. FREESE Akademie und des Dr. FREESE Institut.
Pascal Bujor ist Sportwissenschaftler (B. Sc.) und Mitarbeiter im Dr. FREESE Institut für Sport- und Ernährungsimmunologie.
www.dr-freese.com
Literatur:
1 Scheiman et al. (2019). Meta-omics analysis of elite athletes identifies a performance-enhancing microbe that functions via lactate metabolism. Nature Medicine.
2 Patrick Wahl et al. (2009). Moderne Betrachtungsweisen des Laktats: Laktat – ein überschätztes und zugleich unterschätztes Molekül. Schweizerische Zeitschrift für „Sportmedizin und Sporttraumatologie“, 57 (3).
3 Clark et al. (2015). Exercise and associated dietary extremes impact on gut microbial diversity. Gut Microbiota.
4 Hill et al. (1997). Intestinal flora and endogenous vitamin synthesis. European Journal of Cancer Prevention, 6 (1).
5 LeBlanc et al. (2013). Bacteria as vitamin suppliers to their host: a gut microbiota perspective. Current Opinion in Biotechnology, 24 (2).
Foto: vrx123 – stock.adobe.com, Dr. Jens Freese; Pascal Bujor