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Ursachen und Folgen von Beckenbodendysfunktionen
Der Beckenboden wird als Ursache für Beschwerden am Stütz- und Bewegungsapparat, wie zum Beispiel Rückenoder Leistenschmerzen, eher selten in Betracht gezogen. Selbst bei einer offensichtlichen Dysfunktion, in etwa Inkontinenz, steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen – und das obwohl jede dritte sportlich aktive Frau davon betroffen sein soll. Die Sportwissenschaftlerin und Physiotherapeutin Franziska Hanke-Müller verdeutlicht, warum jeder Sportler auch seinen Beckenboden intensiver trainieren sollte.
Dem Beckenboden wird im Sport sehr wenig bis gar keine Beachtung geschenkt. In vielen Sportarten, gerade im High-Impact-Bereich, wird der Beckenboden aufs Äußerste belastet und nicht selten stellen sich Symptome wie Inkontinenz ein1. Aber auch Schmerzen in der Oberschenkelmuskulatur können durch Spannungsveränderungen in dieser Muskelgruppe über die myofaszialen Verbindungen getriggert werden.
Beckenboden-Basics
Beim Beckenboden handelt es sich um eine dreischichtige Muskelgruppe, die sich am Beckenausgang befindet und diesen nach unten abschließt. Er stabilisiert die Beckenorgane Blase und Enddarm und ist für die Kontinenz sowie sexuelle Aktivitäten mitverantwortlich. Bei Frauen stützt er zusätzlich Scheide und Gebärmutter. Gemeinsam mit dem Zwerchfell arbeitet er unermüdlich in jeder Atemphase und unterstützt die Stabilisation des Rumpfes bei der Aufrichtung. Evolutionsgeschichtlich hatte er die Funktion, den Schwanz der Vierfüßler zu steuern und dessen Haltefunktion zu gewährleisten.
Das Übel der Beckenbodendysfunktion begann mit der Aufrichtung des Menschen. Durch diese aufrechte Körperposition nahm er – zusätzlich zu seiner Haltefunktion – den Kampf gegen die Schwerkraft auf4. Er ist ein wichtiger Stabilisator für den Beckenring und unterstützt die Hüft- und Bauchmuskulatur in ihren Funktionen5. Mit einer sogenannten Ruhespannung – ähnlich dem Unterkiefer, der ohne diese Spannung nach unten klappen würde – arbeitet der Beckenboden den ganzen Tag mit wenig, aber sehr ausdauernder Muskelkraft.
Den kleinen Anteil an schnell arbeitenden Muskelfasern benötigt er, um explosiven Belastungen wie Husten, Niesen, Hüpfen oder Springen entgegenzuwirken und die Kontinenz zu sichern6. Der Beckenboden kann diese Aufgaben natürlich nicht allein bewältigen; er benötigt Mitspieler, die ihn in seiner Funktion unterstützen. Die wichtigsten sind dabei der M. transversus abdominis (querer Bauchmuskel) und das Zwerchfell7. Ist einer dieser Muskeln nicht voll funktionstüchtig, hat dies Auswirkungen auf das gesamte System.
Vielfältige Einflussfaktoren
Der Beckenboden ist ein hochsensibles System, das auf kleine Veränderungen mit Funktionseinschränkungen reagieren kann. Faktoren, die die Spannung der Beckenbodenmuskulatur beeinflussen können, sind zum Beispiel:
- verstärkte oder verminderte Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule,
- Funktionseinschränkungen der Hüftgelenke,
- Stress oder psychische Belastung z. B. durch Traumata,
- mechanische Belastungen z. B. durch Schwangerschaft und Geburt,
- Hormonveränderungen z. B. nach der Menopause,
- Verletzungen im Bereich des Beckens,
- einseitige Belastungen,
- die Atmung beeinflussende Umstände (z. B. Asthma, Raucherhusten, Sprechberufe mit falscher Atemtechnik) oder falsche Atemtechniken z. B. beim Sport,
- Alltagsbelastungen (z. B. Bücken, Heben, Tragen) oder Sportarten (z. B. Gewichtheben) mit hohem Druckanstieg im Bauchraum,
- Sportarten mit High-Impact-Komponenten (z. B. Laufen, Fußball, Trampolinspringen),
- Sportarten mit hoher Beckenbodenaktivität (z. B. Reiten),
Alltagsaktivitäten und -belastungen mit reduzierter Rumpfspannung (z. B. langes Sitzen).
Durch diese Einflussfaktoren kann die Beckenbodenmuskulatur entweder mit zu viel Spannung (Hypertonus) reagieren oder in ihrer Spannung reduziert sein (Hypotonus). In der Tabelle werden die Symptome, die durch solche Spannungsveränderungen auftreten können, gezeigt. Damit die volle Funktionsfähigkeit des Beckenbodens gewährleistet wird, muss er elastisch, kraftvoll und schnell arbeiten können. Die Grundlage dafür ist die Elastizität beziehungsweise die damit verbundene motorische Kontrolle. Liegen hier Funktionseinschränkungen vor, ist eine gute Kraftentfaltung schwierig. Der Beckenboden arbeitet, ähnlich einem Schwungtuch, bei jedem Atemzug analog zum Zwerchfell.
Füllen sich bei der Einatmung die Lungen mit Luft, senkt sich das Zwerchfell und die daraus resultierende Druckwelle wird auf den Beckenboden übertragen; er senkt sich ebenfalls. Beim Ausatmen hebt sich das Zwerchfell. Analog dazu wird der Beckenboden aktiviert und steigt minimal nach oben. Das heißt, bei einer Ruheatemfrequenz von 12 bis 18 Atemzügen pro Minute schwingt der Beckenboden am Tag zwischen 17280 und 25920 Mal – eine unglaublich hohe Anzahl an kleinen Bewegungen, die hier stattfindet. Kommt es zu einer Veränderung dieser Flexibilität (siehe Einflussfaktoren) oder zu einer ungünstigen Pressatmung (z. B. beim Heben von Gewichten), steigt bei jedem Atemzug der Druck im Bauchraum und damit auch am Beckenboden. Ähnlich wirken sich High-Impact-Belastungen wie z. B. Joggen auf den Beckenboden aus. Bei jedem Aufprall des Fußes auf den Boden muss er für eine adäquate Stoßdämpfung unfassbar schnell reagieren, was ebenfalls zu einer Steigerung der Beckenbodenbelastung führt11. Eine unzureichende Rumpfstabilität, verursacht durch muskuläre Defizite, fördert nicht die Funktionalität dieser Muskelgruppe.
Deshalb ist es auch für Sportler unerlässlich, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, um Langzeitfolgen vorzubeugen oder aktuelle Beschwerden positiv zu beeinflussen.
Die Funktionsfähigkeit beurteilen
In der ersten Instanz sollte überprüft werden, ob einige der oben genannten Symptome zutreffen. Frauen können bei Interesse zusätzlich z. B. den „Deutschen Beckenboden-Fragebogen“ heranziehen. Dort werden Items aus allen Funktionsbereichen der Beckenbodenfunktionalität beurteilt. Speziell für Männer gibt es aktuell noch nichts Vergleichbares. Auch wenn sich keine der beschriebenen Symptome feststellen lassen, lohnt es sich, die Funktionalität des Beckenbodens näher zu überprüfen.
Test 1: Lässt sich die Schwingung der Beckenbodenmuskulatur fühlen?
Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit. Legen Sie sich auf den Rücken, auf die Seite oder setze Sie sich aufrecht auf einen Stuhl. Atmen Sie tief bis in das Becken ein und wieder aus. Erspüren Sie, ob ein Senken des Damms beim Einatmen und ein Heben beim Ausatmen wahrzunehmen ist. Wenn das nicht der Fall ist, kann ein Defizit der Flexibilität bzw. der Entspannungsfähigkeit des Beckenbodens vorliegen.
Test 2: Lässt sich die Muskulatur des Beckenbodens aktivieren?
- Setzen Sie sich auf das vordere Drittel eines Stuhls und richten Sie Ihren Oberkörper auf. Fühlen Sie nun auf dem Stuhl die seitliche Begrenzung des Beckenbodens, die beiden Sitzbeinhöcker. Kippen Sie Ihr Becken nach vorn und hinten. Erspüren Sie die vordere Begrenzung (Schambein) und die hintere Begrenzung (Steißbein). Innerhalb dieser knöchernen „Raute“ befindet sich unsere Beckenbodenmuskulatur.
- Atmen Sie wieder tief ein und aus und erspüren Sie, wie sich durch die Atmung der Druck auf die Erhöhung verändert. Beim Einatmen erhöht sich der Druck auf die Unterlage und beim Ausatmen lässt er wieder nach.
Aktivieren Sie jetzt beim Ausatmen Ihren Beckenboden, indem Sie versuchen, das Steißbein in Richtung Schambein zu „bewegen“. Dadurch hebt sich der Damm und der Druck auf die Erhöhung reduziert sich.
Alternativ kann diese Wahrnehmungsübung auch im Liegen durchgeführt werden. Legen Sie sich auf den Rücken, stellen Sie die Beine an, positionieren Sie Ihre Hand auf dem Damm und führen die Übung analog zum Sitz durch. An der Hand lässt sich eine Spannungsveränderung wahrnehmen. Achten Sie bei beiden Ausführungen darauf, dass die Gesäß- und Beinmuskulatur entspannt bleibt. Gibt es Schwierigkeiten bei diesen Übungen? Dann kann als Ursache eine unzureichende Koordinationsfähigkeit zugrunde liegen.
In der nächsten Instanz geht es darum zu testen, wie kraftvoll der Beckenboden arbeitet. Aktivieren Sie in gleicher Weise Ihren Beckenboden zehnmal kraftvoll und erspüren Sie, ob alle zehn Wiederholungen mit der gleichen Intensität ausführbar sind. Treten dabei z. B. Schmerzen auf oder werden weniger als zehn Wiederholungen mit gleicher Kraft erreicht, deutet das auf ein Kraftdefizit hin. In einem zweiten Test überprüfen Sie, wie lange die Kraft gehalten werden kann. Aktivieren Sie dafür den Beckenboden und versuchen Sie, diese Kraft zu halten (max. zehn Sekunden). Lässt sie vorzeitig nach, kann das ein Zeichen für eine reduzierte Kraftausdauer der Muskulatur sein. Es folgt die Beurteilung der Schnellkraft. Spannen Sie dafür den Beckenboden zehnmal schnell und kräftig an. Lässt die Muskelkraft im Laufe des Testes nach, kann die Schnellkraft der Beckenbodenmuskulatur beeinträchtigt sein. Häufig zeigt sich bei einem Beckenboden mit zu viel Spannung trotzdem ein Defizit in den Kraftkomponenten. Die erhöhte Muskelspannung führt zu einer verminderten Elastizität. Dadurch erfolgt seine Kraftentwicklung unzureichend. Je höher die Elastizität des Beckenbodens ist, desto besser funktioniert seine Kraftentfaltung und Stabilisationsfunktion z. B. bei High-Impact- oder hohen intraabdominalen Druckbelastungen.
Test 3: Wie kräftig sind die Rumpf- und Beinmuskeln?
wenn es um die beckenbodengesundheit geht, ist es unerlässlich, die kraft der muskulatur des rumpfes und der unteren extremität zu analysieren. zeigen sich hier defizite der muskeln, die über die myofaszialen leitbahnen der tiefen frontallinie13 miteinander in verbindung stehen und mit dem beckenboden kooperieren (z. b. fuß- und wadenmuskulatur, ischiocrurale muskulatur, außenund innenrotatoren der hüftgelenke, m. transversus abdominis), sollten diese ausgeglichen werden. die tiefe bauchmuskulatur steht dabei an erster stelle. ist eine korrekte aktivierung des m. transversus abdominis nicht möglich, kann sich dies ungünstig auf den beckenboden auswirken. ebenso verhält es sich mit den muskeln, die das becken und die beinachse maßgeblich stabilisieren (z. b. extensoren und abduktoren der hüftgelenke). hier zeigen sich in der praxis oft große defizite auch bei leistungssportlern.
Den Beckenboden positiv beeinflussen
1. Entspannungsfähigkeit fördern
Die Atmung hat einen unglaublich großen Einfluss auf die Beckenbodenmuskulatur. Durch gezielte Atementspannungsübungen und eine tiefe Bauchatmung lässt sich die Entspannungsfähigkeit des Beckenbodens fördern. Damit wird auch die Funktionalität des Zwerchfells gefördert10. Je besser die Atmung das Zwerchfell mobilisiert, desto besser kann die Schwingung auf den Beckenboden übertragen werden. Ergänzend dazu lassen sich Faszienmobilisationen z. B. mit einem Tennisball (z. B. direkt am Beckenboden oder an den Füßen) zur Regulation der Spannung einsetzen.
2. Koordinationsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur verbessern.
Es geht gar nicht so sehr darum, den Beckenboden permanent maximal zu aktivieren – er sollte in allen Kraftqualitäten koordinativ gefördert werden9. Ein gutes Beckenbodentraining besteht aus Entspannungs- und Anspannungsübungen, es sollte funktionell sein und jedes Krafttraining ergänzen.
3. Kräftigung der umliegenden Muskulatur
Gerade ein Training der stabilisierenden Becken-, Hüft- und Rumpfmuskulatur ist unerlässlich. Sie unterstützt den Beckenboden und fördert die Aufrichtung des Rumpfes.
4. Mobilisation des Beckens, der Hüftgelenke und der Lendenwirbelsäule.
Damit die Muskulatur ihre volle Funktionsfähigkeit entfalten kann, benötigt sie flexible Gelenke. Mobilisationsübungen, die das Becken öffnen, die Hüftgelenke und die Lendenwirbelsäule mobilisieren, sollten deshalb in keinem Beckenbodentrainingsprogramm fehlen.
Fazit
Der Beckenboden ist eine hochsensible Muskelgruppe, die deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient. Mit diesen Tipps lassen sich die Belastungs- und Leistungsfähigkeit des Beckenbodens positiv beeinflussen. Sollten mit diesen Übungen etwaige Beschwerden nicht nachhaltig zu verbessern sein, ist es ratsam, auf die professionelle Unterstützung von spezialisierten Therapeuten zurückzugreifen. (z. B. Therapeutenliste der AG GGUP).
Franziska Hanke-Müller
Franziska Hanke- Müller
Die Autorin ist als Physiotherapeutin und Sportwissenschaftlerin in Heidelberg tätig. Sie ist Dozentin an einer Berufsfachschule für Physiotherapie und betreibt eine Privatpraxis. Mit einem ganzheitlich orientierten Ansatz in den Bereichen Urologie und Gynäkologie, der neben Therapie und Training auch das Coaching einbezieht, begleitet sie Patienten nachhaltig in ein gesundes und aktives Leben.
www.hanke-mueller.de
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